Als die beiden Linienflugzeuge in die Türme des World Trade Centers rasten, kam es zu höchst eigenartigen Reaktionen. Das Erste und Einzige, was die US-Armee an diesem Morgen unternahm, war eine Einheit der Nationalgarde zu beauftragen, die Luft in Manhattan mit Hilfe einer mobilen Detektoreinheit auf tödliche Erreger zu testen. Das Weiße Haus pumpte sich eingestandenermaßen "seit den frühen Morgenstunden" des 11. September mit Cipro voll, dem seinerzeit stärksten Anthrax-Antibiotikum.
Dass die Bush-Administration und die Geheimdienste Warnungen ignorierten, ist in den vergangenen Wochen immer deutlicher geworden. Wenn sie aber etwas geahnt oder gewusst haben sollten, dann zeigen ihre Reaktion am 11. September, dass sie eine gänzlich anders geartete A
geartete Attacke erwartet hatten. Aber nicht nur die Regierenden waren von der Vorstellung eines Bioterrorangriffs infiziert. Vor allem in New York brach eine regelrechte Anthrax-Hysterie aus: Die Apotheker kamen mit dem Ordern von Cipro nicht mehr nach.Und dann tauchte das weiße Pulver tatsächlich auf: In den Wochen nach den Anschlägen vom 11. September gingen fünf echte Anthrax-Briefe in die Post, denen bis Anfang November 2001 fünf Personen zum Opfer fielen. Dazu gesellten sich Tausende falscher Anthrax-Briefe, die mit Mehl oder Babypuder gefüllt waren. Während viele der Trittbrettfahrer der Angst ertappt wurden, sind die Täter nie gefasst worden.Philipp Sarasin, Professor für Geschichte an der Universität Zürich, hat gerade einen längeren Essay mit dem Titel "Anthrax" veröffentlicht. Dieses "Anthrax" in Anführungszeichen ist im Gegensatz zu dem echten, tödlichen Anthrax eine Ausgeburt des kollektiven Imaginären: "Bioterror als Phantasma", wie es im Untertitel heißt. Sarasin sucht nachzuweisen, dass die Fiktion die Realität zu formen vermag.Am anschaulichsten gelingt ihm dies anhand des 1997 erschienenen Bioterrorthrillers The Cobra Event von Richard Preston. Darin wird eine Attacke auf New York mit pathogenen Mikroorganismen geschildert: Die infizierten Opfer beginnen, sich in grauslichster Weise selbst aufzufressen und sterben an Gehirnzersetzung. Die deutsche Übersetzung des scheinbar bestens recherchierten Romans trägt im Titel den Zusatz "Tatsachen-Thriller". Der Realitätsgestus wird durch einen Anhang mit biologischen Fachtermini verstärkt, der Durchschnittsleser vermag jedenfalls keineswegs einzuschätzen, ob die verheerenden, gentechnisch designten Mikroorganismen denkbar oder nur ein Hirngespinst sind.The Cobra Event verfehlte seine durchaus beabsichtigte Wirkung nicht. Dass dessen erstes Opfer ein siebzehnjähriges rothaariges Mädchen war, muss den Durchschnittsleser Bill Clinton an seine damals gleichaltrige Tochter erinnert haben. Der US-Präsident machte den Roman bereits im Januar 1998 zur Pflichtlektüre für seine Berater und hohe Pentagon-Offiziere. Preston, der studierte Anglist und Romanautor, stieg schnell zu einem viel gefragten Experten auf und berichtete bereits im April 1998 einem Komitee des Senats über die Bedrohung durch feinstes Pulver und mit Erregern vollgepackte Bomben.Um das Phantasma zu komplettieren, wird in dem Roman eine "Russland-Irak-Connection" hergestellt. Der Einzeltäter hatte die Kampfmittel selbstredend aus dem Irak erhalten, der wiederum arbeitslosen Biowaffenexperten aus der ehemaligen Sowjetunion Unterschlupf geboten hat. Die Parallelen mit der vermeintlichen Wirklichkeit der späteren US-Kriegsrhetorik decken sich bis zu den mobilen Hochsicherheitslabors in LKWs in der irakischen Wüste, nach denen noch heute gesucht wird.Der erwähnte Philipp Sarasin spricht von einer "Signifikantenkopplung"; einfacher gesagt: durch die immer gleiche Wiederholung von Behauptungen werden Verbindungen hergestellt: "Anthrax meinte sehr schnell und vor allem Bin Laden oder die Taliban." Anthrax ging vorüber, das Phantasma des Bioterrors blieb. Immer wieder sprach Präsident Bush von "poison, disease, gas". Dass der Irak über einsatzbereite Massenvernichtungswaffen verfüge, war bekanntlich die Legitimation für den dritten Golfkrieg. Die behauptete Verbindung zwischen Irak und al Qaida war so glaubwürdig, dass laut Umfragen im Januar 2003 die Hälfte der US-Bevölkerung glaubte, Saddam Hussein sei direkt verantwortlich für die Anschläge von New York und Washington.Dass man diese "düstere Vision einer Massenvernichtung mit biologischen Waffen" für möglich halten mag, ist für Sarasin die Folge eines machtvollen medialen Diskurses, in der Hollywoodblockbuster wie 12 Monkeys und rassistisch unterlegte Vorstellungen von einer Infiltration des eigenen "Volkskörpers" durch arabische Eindringlinge ineinandergreifen. Sarasin kann zeigen, wie stark Politiker und Medien sich beim Reden über den "Terror" des immunologischen und bakteriologischen Vokabulars bedienen.Ja, aber ist die Bedrohung durch epidemisch sich verbreitende tödliche Erreger in der Hand von Terroristen reine Einbildung? Grundsätzlich ausschließen lässt sich nichts, aber bisher fehlt jeglicher Beleg dafür. Die Produktion und der Einsatz von modernsten Biowaffen ist ein logistisch, finanziell und in puncto Expertise dermaßen aufwändiges und riskantes Unterfangen, dass es einem dezentralen Netzwerk wie al Qaida kaum gelingen dürfte. Auf gleich null bezifferte der FBI-Direktor Louis Freeh 1999 die Wahrscheinlichkeit für einen großangelegten terroristischen Angriff mit Biowaffen. Die Linienmaschinen von 9/11 wurden bekanntlich mit Teppichmessern entführt.Aber was ist mit den echten Anthrax-Briefen? Ein Artikel des führenden Wissenschaftsmagazins Science vom November 2003 kommt zu dem Schluss, dass die in den Anthrax-Briefen verwendeten Sporen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Hochsicherheitslabor der USA selbst stammen. Es bedarf ausgefeilter cutting-edge Technologie, um die Milzbrandsporen so fein zu mahlen - kleiner als fünf Mikrometer - und mit Zusatzstoffen zu versehen, die deren Verklumpung verhindern. Die Angst scheint hier zu einer self-fulfilling prophecy geworden zu sein.Sicher ist, dass bereits während der Clinton-Administration, verstärkt aber nach dem 11. September in die Biowaffenforschung investiert wurde und neue Hochsicherheitslabors aus dem Boden gestampft werden. Um sich gegen Angriffe mit Ebola- oder Pockenerregern zu wappnen, müssen diese gezüchtet werden. Die damit verbundenen Gefahren eines Missbrauchs - siehe Anthrax - scheinen für Kritiker jedoch ungleich realer als die imaginierte Attacke eines muslimischen Märtyrers, der sich infiziert und in shopping malls den Virus verbreitet.Dass die USA nicht auf einen entsprechenden Anschlag vorbereitet seien, wie vom Pentagon immer wieder kolportiert wird, hält Sarasin für einen schlechten Witz. "Die USA haben zwischen 1998 und 2001 auf Bundesebene pro Woche durchschnittlich eine Antiterrorübung durchgeführt, zwei Drittel davon zu Bioterror." Freilich: in diesen Simulationen sei jeweils das öffentliche Gesundheitssystem zusammengebrochen. Denn im Gegensatz zur milliardenschweren "Biodefense"-Industrie sind die Gesundheitsämter chronisch unterfinanziert. "Viele haben nicht einmal Fax, geschweige denn e-mail."Philipp Sarasin: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Frankfurt 2004 (edition suhrkamp)