Die Arbeiterinnen-Führerin

Frauenrechte Vor hundert Jahren starb Emma Ihrer, eine der ersten großen Gewerkschafterinnen. Sie ist zu Unrecht vergessen

Welch ein Nachruf: „Die unversöhnliche Hasserin jedes Vorurteils, die rücksichtslose Verfechterin der vollen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, die unerschrockene Kämpferin gegen alle knechtenden und büttelnden Gewalten war ein grundgütiges Weib, eine durch und durch mütterliche Natur.“ So schrieb es Clara Zetkin, die Wegbegleiterin, die Mitkämpferin, Mitsozialistin, Mitfeministin, über Emma Ihrer, als diese am 8. Januar 1911 gestorben und drei Tage später auf dem Friedrichsfelder Friedhof in Berlin beigesetzt worden war.

Welch eine Frau: Als „die Seele der ganzen Agitation unter den sozialdemokratischen Frauen“ hat die bürgerliche Presse sie bezeichnet, was keinesfalls als Kompliment gemeint war. Eine Arbeiterinnen-Führerin weckte starke Abneigung. Die Zeiten waren repressiv, eine Arbeiterinnen-Führerin irritierte erweckte Sozialdemokratie galt als gefährlich, wenn sie auch ganz am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr verboten war. Wie Emma Ihrer zu diesem Titel kommen konnte, woher ihre wohl ungeheuerliche Kraft stammte, darüber sind nur wenige Quellen erschlossen. Denn trotz ihrer so wichtigen Funktion in der Arbeiterinnenbewegung ist Ihrer nahezu in Vergessenheit geraten.


Die Putzmacherin bricht aus

Geboren am 3. Januar 1857 in Glatz, Schlesien als Tochter eines Schuhmachers, wird sie streng religiös erzogen und heiratet zu einem nicht überlieferten Zeitpunkt den 22 Jahre älteren Apotheker Emanuel Ihrer. Kurz nach der Eheschließung bricht die junge Ehefrau aber mit den Stereotypen der Rolle der Frau des 19. Jahrhunderts. Die Frau im Deutschen Reich ist weitgehend rechtlos. Das Wahlrecht besitzen nur die Männer. Die Frauen werden von Vorschriften wie dem 1850 in Kraft getretenen preußischen Vereinsgesetz diskriminiert, das ihnen jegliche politische Betätigung, die politische Versammlung, ja die bloße Teilnahme an Versammlungen untersagt. Auch ist Frauen der Beitritt zu Vereinen verboten. Zusätzlich bedrückt das Sozialistengesetz die arbeitende Klasse. Das seit 1878 geltende Gesetz stellt die sozialdemokratische Betätigung im Deutschen Reich unter Strafe.

Emma Ihrer ist von Beruf Putzmacherin: eine Hutmacherin für Frauen. Das provinzielle Klima des kleinstädtischen Glatz kann sie jedoch nicht lange halten. Sie zieht in die Hauptstadt Berlin, wo es zu ihrem ersten überlieferten Auftritt kommt. Auf einer Veranstaltung mit dem Titel: „Wie kann man die Sittlichkeit der Arbeiterinnen heben?“, ergreift sie das Wort. Eine Teilnehmerin beschrieb: "In der Diskussion betonte eine schlanke Rednerin mit warmer, aber schüchterner Stimme, die Prostitution sei doch nur ein Teil des Elends der Arbeiterinnen. Das könne aber auch mit der Beseitigung der Sittenpolizei, für die sie [wie die Einberuferin] gleichfalls eintrat, nicht aus der Welt geschafft werden. Diese Rednerin war Genossin Ihrer."

Am 26. Februar 1885 versammeln sich rund eintausend Frauen im Uraniasaal in Berlin und konstituieren den „Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen“. Ihrer wird Schriftführerin. Der Verein ähnelt einer Gewerkschaft. So sollen sowohl geistige als auch materielle Interessen wie die Lohnverhältnisse angehoben, gegenseitige Unterstützung bei Lohnstreitigkeiten geleistet werden und Aufklärung und Information durch Vorträge und eine Bibliothek geschaffen werden. Nach kurzer Zeit hat der Verein mehrere tausend Mitglieder und erweckt nicht von ungefähr einen sozialdemokratischen Eindruck. Das missfällt den preußischen Behörden. So stehen Ihrer und ihre Mitstreiterinnen bereits im Dezember 1886 vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, politische Ziele mit dem Verein verfolgt zu haben, er wird verboten. Das Gericht verhängt Geldstrafen zwischen 60 und 100 Mark, damals viel Geld.

"Ihr Frauen, kümmert euch selber"

Ihrer fühlt sich durch das Urteil erst recht motiviert, weiter zu arbeiten. Sie durchwandert weite Teile Deutschlands und appelliert an die Arbeiterinnen, sich politisch zu betätigen. „Ihr Frauen müsst selber um eure Befreiung aus Geschlechts- und Lohnsklaverei kämpfen“, ruft sie den Frauen zu. So wird sie reichsweit bekannt. Im Jahr 1889 senden sie die Arbeiter Berlins als Delegierte zum Gründungskongress der II. Internationale nach Paris. Sie leistet Widerstand gegen die Männer, die in Frauen vor allem Billigkonkurrenz am Arbeitsmarkt erkennen. Zusammen mit Zetkin gelingt es ihr einen Antrag zu verhindern, der sich gegen die Frauenerwerbstätigkeit richtet. Statt dessen werden Frauen in den Gewerkschaften künftig – offiziell – als gleichberechtigt anerkannt. Inspiriert von Ihrers Auftritt, entsteht in Berlin eine gewerkschaftliche Frauenagitationskommission.

Im Dezember 1890 fällt das Sozialistengesetz. Ihrer verlangt einer Neuregelung der Statuten der Gewerkschaften, damit auch Frauen Mitglieder werden können. 1898 verfasst sie die Agitationsschrift: „Die Arbeiterinnen im Klassenkampf“, in der sie die Kluft zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung beim Namen nennt. Während die bürgerliche Frauenbewegung ihr Heil in den Grenzen der herrschenden Ordnung suche, sei die Arbeiterinnenfrage ein Teil der sozialen Frage und könne nur gelöst werden in einer neuen Gesellschaft, in der die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frau vom Mann und vom Kapitalisten garantiert sei. Wie selbständig Ihrer in ihren letzten Jahren sein konnte, ist bislang unbekannt. Sie war zuletzt schwerkrank, lebte ohne Trauschein mit dem Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften, Carl Legien, in einem Haus in Niederschönhausen bei Berlin, bis sie, nur wenige Tage nach ihrem 54. Geburtstag, vor hundert Jahren starb.

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