„We can’t breathe.“ Wir können nicht mehr atmen. Dieser Aufschrei treibt die jüngsten Proteste in vielen Städten der USA an. Der Auslöser dafür war die Entscheidung einer Grand Jury, einen New Yorker Polizisten freizusprechen, der einen afroamerikanischen Mann so lange im Würgegriff gehalten hatte, bis der erstickt ist. „I can’t breathe“, lauteten die letzten Worte von Eric Garner. Nur einer von Hunderten Farbigen, die in den vergangenen Jahren in den USA durch die Hände der Polizei starben.
Garners Tod zeugt einmal mehr vom tiefsitzenden, institutionellen Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Polizisten erschossen zu werden, ist für einen schwarzen Mann 21-mal höher als für einen weißen. So wie Mike Brown, ein unbewaffneter Jugendlicher, der im August in Ferguson von einem Polizisten mit sechs Schüssen getötet wurde. Für den sah der Junge nämlich aus wie ein „Dämon“, das sagte der Polizist während der Anhörung tatsächlich, und wurde für seine Tat hinterher ebenfalls nicht angeklagt. In der Wut und den Protesten gegen diese beiden Entscheidungen kumuliert nun das jahrelang angestaute Gefühl der staatsbürgerlichen Ungleichbehandlung, Entwürdigung und Diskriminierung von Afroamerikanern. Kein Wunder, dass sich diese Wut nun in Aufruhr äußerte: Der Rechtsstaat hat sich wiederholt für die Anerkennung ihrer Gleichheit nicht zuständig erklärt.
Die Geschichte der Afroamerikaner schien mit der Wahl Barack Obamas zum ersten farbigen Präsidenten ein glückliches Zwischenergebnis gefunden zu haben. Die Sklaverei dauerte bis ins Jahr 1865, die Rassentrennung in den Südstaaten wurde erst durch die Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts abgeschafft. Seither gelangten Afroamerikaner wie Colin Powell als US-Außenminister durch die liberale Gleichstellungspolitik in höchste Staatsämter; es entstand eine farbige Mittelklasse. Aber der Rassismus lebte in der Gesellschaft fort, er wurde nur subtiler, komplexer und kultureller.
Dass er nun wieder offen zutage tritt, hängt auch mit der Zunahme sozialer Ungleichheit zusammen. Der öffentliche Dienst, zuvor ein wichtiges Instrument für Afroamerikaner zum sozialen Aufstieg, wurde in den letzten Dekaden zusammengekürzt. Aus jenen Stadtteilen, die durch die schleichende Deindustrialisierung in Schwierigkeiten gerieten, zogen die Weißen fort, die Afroamerikaner kamen, was noch mehr Weiße zum Wegzug bewog. Die Regierungen und Gemeinden kürzten die Mittel für Schulen und den sozialen Wohnungsbau, schlossen Krankenhäuser und kürzten die Mittel für soziale Programme.
Der Traum vom sozialen Aufstieg hat sich zum Albtraum gewandelt
Die Arbeitslosen- und Armutsquoten von Schwarzen liegen in einigen Orten um 50 Prozent höher als die von Weißen. In der Folge vermehrten sich in solchen Stadtvierteln die sozialen Probleme, während die klammen Kommunen ihre Einnahmen vor allem dadurch erhöhen mussten, dass sie Bagatelldelikte mit hohen Bußgeldern belegten. So entwickelte sich eine neue Spirale der Diskriminierung.
Die afroamerikanische Juristin Michelle Alexander spricht deshalb von einem „neuen Jim Crow“, angelehnt an die Jim-Crow-Gesetze, die zwischen den Jahren 1876 und 1964 „Rassentrennung“ vorschrieben. In den Vereinigten Staaten sitzen im 21. Jahrhundert mehr Afroamerikaner im Gefängnis, als es 1850 Sklaven gab. Der Traum vom sozialen Aufstieg hat sich für die Mehrheit in einen täglichen Albtraum verwandelt. Nur: Bei den Afroamerikanern verschmelzen ökonomische Ausgrenzung und ethnische Diskriminierung.
„We can’t breathe“ und „Black lives matter“ wurden zu den Parolen der größten Protestwelle seit Occupy. Sportler und Prominente tragen Protest-T-Shirts; Highways wurden blockiert; an Universitäten fanden die-ins – ein symbolisches Massensterben – statt. In vielen Städten gab es Zusammenstöße mit der Polizei. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich in den vergangenen Wochen gedreht. Es ist nun kein Thema der schwarzen Gemeinschaften mehr, sondern ein Problem der ganzen Nation.
Die jüngsten Proteste sind nur ein Element eines Aufbegehrens in einer Gesellschaft, die vielen die Luft abschnürt. Die USA werden immer mehr zu einer erschöpften Nation, die ökonomisch deindustrialisiert und sozial gespalten ist, und in der politische Bürgerrechte immer weiter eingeschränkt werden. Die Veteranin der US-Bürgerrechtsbewegung Frances Fox Piven sieht bereits Anzeichen für eine „neue Ära von Massenprotesten“. Dazu passen die jüngsten Streikbewegungen im Niedriglohnsektor. Nicht nur den Afroamerikanern, sondern auch den Millionen von Jobbern bei Walmart, McDonald’s und Co. fehlt die Luft zum Atmen.
Auch der Occupy-Bewegung wurde schnell zugeschrieben, sie habe das Zeug, die US-Gesellschaft zu verändern. Daraus ist nichts geworden. Doch die Proteste der vergangenen Tage sind anders. In den USA manifestiert sich eine neue Bürgerrechtsbewegung, die den immer noch wirkmächtigen Traditionen der 60er Jahre ein Revival beschert. Nun stehen die USA wirklich an einem Wendepunkt.
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