Die Macht-Demonstration

Willkür Die Polizeigewalt bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt ist ein gefährliches Signal: Unser Rechtsstaat schützt lieber die Freiheit der Wirtschaft als die der Meinung

Regenschirme und Schilder auf einer Demonstration sind: passive Bewaffnung. Pfefferspray und Schlagstöcke sind: Mittel der rechtstaatlichen Demokratie, um der passiv bewaffneten Gewalttäter Herr zu werden. Das ist das Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, das die Polizei am vergangenen Wochenende in Frankfurt auf der Blockupy-Demonstration ausgelebt hat.

Der Demonstrationszug kam am Samstag nur wenige Hundert Meter weit. Die Demonstranten sollten ihr Ziel, die Europäische Zentralbank, vor der man gegen die soziale Katastrophe der deutschen Krisenpolitik demonstrieren wollte, an diesem Tag nicht mehr erreichen. An einer Straßenflucht wurde sie gestoppt, die Polizei kesselte den ersten Block der Demonstration ein. Die Polizei setzte auf Härte, immer wieder sanken Demonstranten zu Boden, weil sie von einem Gummiknüppel getroffen wurden oder ein Schwall Tränengas ins Gesicht geschossen bekamen. Zahlreiche Menschen, die Veranstalter sprechen von mehr als 200, wurden grundlos verletzt. Und während die Wasserwerfer rasch in Stellung gebracht wurden, ließen die Krankenwagen auf sich warten. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, so steht es im Grundgesetz. Am Wochenende konnte man im Schatten der Bankentürme erfahren, was das bedeuten kann.

Zeichen für eine geplante Polizeiaktion

Die Indizien, dass der Kessel keine Reaktion der Polizei auf gewalttätige Demonstranten, sondern eine geplante Aktion der Polizei war, sind sehr ernst zu nehmen. So gibt es zahlreiche Berichte, unter anderem in der Bild-Zeitung (die unverdächtig ist, Partei für linke Demonstranten zu nehmen), dass es von Anfang an geplant war, die Demonstration nicht bis zur Europäischen Zentralbank kommen zu lassen. Auch die ebenfalls linker Sympathien unverdächtige FAZ widersprach der Darstellung der Polizei und berichtete von einer weitgehend friedlichen Kundgebung.

Falls diese Indizien der Wahrheit entsprechen – und vieles spricht dafür –, dann wurde am Samstag in Frankfurt der demokratische Rechtsstaat ausgehebelt. Ja, man unterlief sogar die eigenen staatlichen Institutionen: Das zuständige Verwaltungsgericht hatte die Demonstration vor der Europäischen Zentralbank erlaubt.

Gewiss, der Frankfurter Kessel war nicht der erste Rechtsbruch dieser Art. Im Hamburger Kessel von 1986 wurden die Demonstranten mit noch größerer Härte über 13 Stunden ihrer Demonstrations- und Bewegungsfreiheit beraubt. Aber der Kontext macht den Unterschied. Der Frankfurter Kessel fand in Zeiten der Finanzkrise und der Postdemokratie statt.

In der Postdemokratie wurden bisher vor allem die sozialen Interessen der Bürger unterlaufen, durch die Macht der Wirtschaft, Lobbyismus und die vermeintlichen Sachzwänge der „systemrelevanten“ Banken. Aber nun wurde (wie übrigens schon im Jahr zuvor bei der ersten Blockupy-Demonstration) die autoritäre Seite der Postdemokratie offenbart, die Kernbestandteile der Demokratie berührt. Der Rechtsstaat soll nicht nur Gewerbefreiheit gewährleisten, sondern auch Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Er hat die Pflicht, die ungehinderte Durchführung von Demonstrationen zu ermöglichen.

Demokratie lebt von Konflikten

Denn Demokratie ist mehr als nur die Durchführung von Wahlen. Sie beruht auf der Anerkennung der Opposition, dem Schutz der Rechte der Minderheit, auf der Legitimität von Protest, Demonstrationen, ja sogar von zivilem Ungehorsam. Kurzum: Die Demokratie lebt von der zivilen Austragung von Konflikten. Aber in der Postdemokratie, der Regierungsform von ökonomischen Sachzwängen und neoliberalem Elitenkonsens, wird jedes nicht-marktkonforme Verhalten zunehmend delegitimiert.

Frankfurt war nicht die einzige Stadt in Europa, in der mit massiver Gewalt gegen Demonstranten vorgegangen wurde. Gewiss, das Ausmaß der Gewalt in Istanbul ging weit über die Gewalt in Frankfurt hinaus. Aber in Istanbul und Frankfurt wurde deutlich, wie bedroht die Demokratie und staatsbürgerliche Rechte sind. Beide Ereignisse reihen sich ein in das globale Aufbegehren, zu dem der Arabische Frühling, die Generalstreiks in Südeuropa, die Indignados in Spanien und Occupy gehören. Alle diese Konflikte finden in mitunter völlig unterschiedlichen Gesellschaften und politischen System statt. Aber sie eint das Aufbegehren gegen eine autoritäre Modernisierung, gegen eine neue Illiberalität, die auch in der westlichen Welt um sich greift.

Occupy und der Arabische Frühling

Hier geht es um eine demokratische Staatsbürgerschaft. In der arabischen Welt will sie erkämpft werden, in der westlichen gilt es, sie zu verteidigen. In Istanbul fließt das zusammen. Die Türkei ist ein demokratisches, halbeuropäisches Land. Dort berühren sich gerade die Occupy-Bewegung und der Arabische Frühling, geografisch und politisch.

Die bedrückende Nachricht ist: Europa gleitet in den Herbst der Demokratie – auch weil die Kräfte der Opposition, wie bei Blockupy gesehen, real so schwach sind.

Die wirklichen Waffen der Gegenwart sind nicht Regenschirme, sondern Bankenrettungsschirme. Freiheit wird reduziert zur Gewerbefreiheit. Gründe für einen Europäischen Frühling gibt es genug.

Oliver Nachtwey ist Soziologe in Trier und Experte für die neuen sozialen Bewegungen

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