Es hat gedauert, aber schließlich haben sich die Verhältnisse in den öffentlichen Diskurs gedrängt: Es wird wieder über Ungleichheit diskutiert. Branko Milanović, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, hat nun ein Buch über Ungleichheit geschrieben, das in seinem intellektuellen Anspruch der berühmt gewordenen Arbeiten von Thomas Piketty oder Anthony Atkinson in nichts nachsteht, ja teilweise sogar über sie hinausragt. Sein Buch ist die erste wirklich globale Studie über Ungleichheit, die sowohl die Entwicklung der einzelnen Nationalstaaten wie auch der Welt in den Blick nimmt.
Über Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert heißt es, er werde viel gekauft, aber kaum gelesen. Auch Milanovićs Buch enthält Passagen, die ein wenig zu technisch, ein wenig zu detailliert daherkommen; insgesamt hat er jedoch gute Aussichten, nicht nur breit rezipiert, sondern tatsächlich auch gelesen zu werden; ein konzentriertes Buch, das nicht wie ein Ziegelstein im Rucksack liegt, sondern – gemessen am Gegenstand – fast flink daherkommt.
Der zentrale Befund, den Milanović präsentiert, ist in der Fachwelt nicht ganz neu, aber er wurde empirisch noch nie so elegant und umfassend präsentiert. Zum einen ist, global betrachtet, die Einkommensungleichheit seit den späten 1980er Jahren gesunken, vor allem, weil in Asien die Einkommen gestiegen sind. Diese neuen Mittelschichten liegen zwischen dem 40. und 60. Prozentrang der globalen Verteilung des Einkommenswachstums. Gemessen am Lebensstandard der Mittelschicht der westlichen Länder müssten sie allerdings weiterhin als relativ arm gelten. Innerhalb der Nationalstaaten des Westens ist die Ungleichheit zum anderen jedoch gestiegen, weil hier die Einkommen der unteren Mittelklassen stagnierten oder bestenfalls minimal gestiegen sind, während das „Eine Prozent“ der Spitzenverdiener und Vermögenden sich immer weiter absetzt.
Diese Befunde, sagt Milanović, widerlegen Simon Kuznet, einen der maßgeblichen Autoren für die historische Entwicklung der Ungleichheit in Marktgesellschaften. Kuznet hatte die lange gültige These formuliert, dass im Prozess der Industrialisierung die Ungleichheit zunächst steigen, aber später – dank besser Bildung und sozialer Interventionen – wieder sinken würde. Milanović verhält sich hier jedoch ambivalent: Ganz über Bord werfen möchte er Kuznet nicht, weshalb er das Theorem der Kuznet-Wellen entwirft: Wie in einer Sinus-Kurve folgt auf einen Anstieg der Ungleichheit auch wieder ihr Rückgang, dann folgt wieder Anstieg und so weiter.
Fraglich, ob das für die USA stimmt, hier könnte ein „perfekter Sturm“ die Ungleichheit langfristig dramatisch verschärfen und eine der größten Gefahren für die westliche Welt evozieren: Zwar habe das „Eine Prozent“ der Topverdiener nach der Finanzkrise ein paar Federn lassen müssen, aber der „soziale Separatismus“ und seine politischen Auswirkungen drohen in einer Plutokratie der Kapitaleigner zu enden.
Milanović ist ein politischer Denker, der in den Problemen der unteren Mittelschicht in den westlichen Ländern eine der Ursachen für den neuen Rechtspopulismus sieht. Wer den Aufstieg von Donald Trump verstehen will, findet hier Gründe. Die Analyse liest sich auch deshalb so erhellend, weil Milanović ruhig und kühl seziert, ohne in Moralisierungen zu rutschen.
Moderner Aufklärer
Er bringt sogar einen Lösungsvorschlag für das Problem der Migration, das die meisten westlichen Staaten in Atem hält. Zunächst argumentiert er wie ein echter Liberaler: Warum sollten in einer globalisierten Welt nur Waren und Geld grenzenlos mobil sein? Und schließlich würde Migration die Welt gleicher machen, da Arbeitseinkommen stärker konvergieren und internationale Geldtransfers zunehmen würden. Damit die Migration aber von der Bevölkerung der aufnehmenden Länder akzeptiert würde, schlägt Milanović einen „Tabubruch“ vor: Migranten würden ohnehin diskriminiert, auf dem Arbeitsmarkt wie auch hinsichtlich ihrer staatsbürgerlichen Gleichheitsansprüche. Man könne im Tausch für eine vereinfachte Migration die Diskriminierung auch formalisieren, Migranten quasi offiziell zu Bürgern machen, die höhere Steuern zahlen und weniger Rechte haben. Die Migranten würden sich gegenüber der Lebenslage ihres Herkunftslands besserstellen, und man würde zugleich die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen. Man muss dem nicht zustimmen. Aber Milanović ist ein moderner Aufklärer: Er formuliert Alternativen, die sich jenseits neoliberaler Hyperglobalisierung und Renationalisierung bewegen.
Das Buch hat vielleicht nur eine ernsthafte Schwäche: Hinter seiner großartigen Analyse der Ungleichheit steht ein weißer Elefant im Raum, der Kapitalismus heißt, aber zumeist nur als „Globalisierung“ adressiert wird.
Info
Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht
Branko Milanović Suhrkamp 2016, 312 S., 25 €
Die Fotos der Beilage
Nikita Teryoshin wurde 1986 in St. Petersburg geboren, das damals noch Leningrad hieß, und lebt seit 2000 in Deutschland. Erst studierte er an der Essener Folkwang-Schule Fotografie, dann in Dortmund. Aber primär fotografiert er einfach. Über die Jahre entstand so eine Sammlung von Bildern, die er, wie er selbst sagt, „ganz ohne Augenzwinkern“ in die Kategorien Street, Documentary & Everyday Horror unterteilt: irgendwo zwischen entfesselter Dokumentarfotografie und subjektivem Journalismus. Am liebsten arbeitet Teryoshin auf eigene Faust, er kooperiert jedoch auch mit nationalen und internationalen Zeitungen und Magazinen wie „The Daily Mail“, „Emerge“, „Galore“, „Vice“ oder „Wired“. Die Fotografien für unsere Beilage stammen aus seiner Serie „space time discountinuum“. Mehr unter teryoshi.com
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