Kein Sieg der Linken

Mindestlohn Union und FDP sind jetzt für Lohnuntergrenzen. Das ist nicht nur Wahltaktik, es entspricht auch ihren Ideologien
Kein Sieg der Linken

Foto: Peter Macdiarmid/ AFP/ Getty Images

Nun wird er also kommen, der Mindestlohn. Als letzte Partei hat sich die FDP der Allparteienkoalition der Mindestlohnbefürworter angeschlossen. Gewiss, FDP und CDU meiden den Begriff des gesetzlichen Mindestlohns – das ist aus ihrer Sicht die Sprache der Sozialdemokraten und Linken – und fordern „branchenbezogene Lohnuntergrenzen“. Aber auch der antifaschistische Schutzwall war für alle erkennbar eine Mauer. Die Einführung eines Mindestlohns ist mehr als eine sozialpolitische Innovation in Deutschland. Sie ist ein Lehrstück der deutschen Politik und der politischen Ökonomie.

Falls der SPD bis September nicht eine fulminante Aufholjagd gelingt, wird die wiedergewählte Kanzlerin Angela Merkel sich ebenfalls in die Mindestlohn-Koalition einreihen. Das käme nicht überraschend. Im Grunde war es in der deutschen Geschichte immer so. Otto von Bismarck, Wilhelm Marx, Konrad Adenauer und Helmut Kohl: Sie gehören alle zur Ahnengalerie der konservativen sozialpolitischen Entrepreneure in der Geschichte des deutschen Wohlfahrtsstaats. Die großen Reformen, die Institutionen, hat nie die Linke, sondern immer die konservative Seite geschaffen.

Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung wurden von Bismarck, die Arbeitslosenversicherung 1927 durch eine vom Zentrums- Politiker Wilhelm Marx geführte Koalition, die große Rentenreform 1957 von Konrad Adenauer eingeführt. Selbst Kohl gelang mit der Pflegeversicherung noch eine sozialpolitische Innovation.

Selbstverständlich geschah dies nie selbstlos. Meist galt es, einem Erstarken der Linken vorzubeugen, indem man sie sozialpolitisch neutralisierte. Ihr pragmatischer Zugang zur Macht erlaubte es den Konser- vativen häufig, Experimente zu wagen, um ihre Regierung zu festigen. In Großbritannien und Skandinavien waren die Sozialdemokraten die Architekten des Sozialstaats, in Deutschland blieben sie nur Beweggrund der konservativen Integration. Der SPD blieb es vorbehalten, den Sozialstaat und seine Leistungen auszubauen, zu verbessern und gerechter zu gestalten. Und später: das genaue Gegenteil davon zu tun.

So scheitert der Markt

Dass Angela Merkel überhaupt und mithin gegen ihren Willen zur Entrepreneurin des Mindestlohns in Deutschland wird, hat sie ebenfalls der SPD zu verdanken. Während der letzten Großen Koalition gab es eine linke Mehrheit im Parlament, und die Linkspartei machte der SPD wiederholt Angebote, dies für die Einführung eines Mindestlohns zu nutzen. Aber die Sozialdemokraten zogen es mehrfach vor, gegen ihre eigene Forderung zu stimmen. Sie blieben lieber der kleine Partner in der Großen Koalition, statt den Kanzler – dann allerdings in einer Koalition mit Lafontaine – zu stellen. Es hat der SPD nicht genützt, der sozialen Lage der Niedriglohnbezieher ebenso wenig.

Die Einführung eines Mindestlohns ist zudem ein Lehrstück für eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die daraus entsteht, dass der ehemals sozial-regulierte Kapitalismus dereguliert wurde. Deutschland galt lange Zeit als Hochlohnland mit relativ geringer Lohnspreizung. Das hat sich nun gründlich geändert.

Zwar blieben in der letzten Dekade die Tarifentgelte in den Kernbranchen relativ stabil und Facharbeiter sowie qualifizierte Angestellte konnten ihre Lohnniveaus halten. Aber der Kreis dieser sozial abgesicherten Arbeitnehmer wird ständig kleiner. Nur noch etwa zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in ei- nem sogenannten Normalarbeitsverhältnis, einer unbefristeten Anstellung mit Kündigungsschutz.

Nach einer Studie der Universität Duisburg-Essen verdiente 2010 fast jeder vierte Beschäftige nur einen Niedriglohn. Die Durchschnittsverdienste in diesem Sektor betrugen 6,68 Euro im Westen und 6,52 Euro im Osten. 1,4 Millionen Beschäftigte verdienten weniger als fünf Euro pro Stunde. Mehr als eine Million Beschäftigte waren „Aufstocker“: Ihr Lohn reichte nicht zum Leben, weshalb sie auf staatliche Leistungen angewiesen waren. Auf dem Arbeitsmarkt scheitert die Idee des unregulierten Marktes immer wieder.

Hier liegt auch der Grund, warum die Hinwendung zum Mindestlohn bei den Regierungsparteien nicht nur ein wahltaktischer Schachzug ist. Niedriglohn bedeutet: Der Staat muss mit Sozialleistungen eingreifen. Aus einer liberalen Perspektive subventioniert man damit die Unternehmen mit Steuergeldern; aus christdemokratischer Sicht wird das Prinzip der Subsidiarität verletzt. Dieser Grundsatz fordert, dass die kleinsten Einheiten ihre Angelegenheiten selber regeln. Die übergeordnete Einheit greift erst dann ein, wenn die untergeordnete dies nicht mehr vermag. Mit einer gesetzlichen Regelung zu Lohnuntergrenzen greift man somit zwar in das Marktgeschehen ein, entlastet aber den Staat und die Steuerzahler.

Dass man statt eines gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohns branchenbezogene Lohnuntergrenzen einführen will, die, nach dem Willen der Union, durch eine Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften bestimmt werden, ist eine Form der verordneten Subsidiarität.

Eigentlich könnte sich Oskar Lafontaine jetzt die Hände reiben, weil die Regierungsparteien eine zentrale Forderung der Linkspartei aufgenommen haben. Auch bei den Gewerkschaften müssten die Sektkorken knallen, schließlich können sie sicher sein, dass eine ihrer zentralen Forderungen bald erfüllt wird.

Tatsächlich ist die Einführung des Mindestlohns zwar ein Erfolg der linken Kräfte, aber ebenso die Anerkennung ihrer Schwäche. Die Gewerkschaften können die Lohnfindung in Deutschland nicht mehr bestimmen. Im Westen arbeiten nur noch 61, im Osten nur noch 49 Prozent der Beschäftigten unter Tarifbindung.

Die Einführung des Mindestlohns führt nicht in die sozialistische Planwirtschaft, wie die Gegner fürchten. Von den USA, die seit 1938 einen gesetzlichen Mindestlohn kennen, sind derlei Entwicklungen nicht bekannt. Im Gegenteil, der Mindestlohn ist ein Merkmal liberaler Marktwirtschaften. Er bildet dort die Voraussetzung für das Funktionieren eines flexibilisierten Arbeitsmarkts. Flexibilität braucht ein Rückgrat, sonst fallen Mensch und Markt in sich zusammen. Sinken etwa die Löhne unter das Existenzminimum, reproduziert sich die Arbeitskraft nicht mehr. Selbst Walter Eucken, einer der Väter des Ordoliberalismus, schloss für solche Fälle einen gesetzlichen Mindestlohn nicht aus.

Mit der Einführung des Mindestlohns wird Deutschland sozialer und auf paradoxe Weise liberaler. Die soziale Marktwirtschaft wird dem angelsächsischen Modell jetzt noch ein Stück ähnlicher.

Oliver Nachtwey ist Wirtschaftssoziologe und arbeitet derzeit an der Universität Trier

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