Wir gehen nicht mehr weg

Proteste Occupy ist zurück – und breiter aufgestellt als je ­zuvor. Gut so. Denn die außerparlamentarische Opposition wird dringend gebraucht

Der Grund der Festnahme, so steht es im Kurzbericht der Polizei: Antikapitalismus. Ende vergangener Woche wurden hunderte Menschen nicht aufgrund einer Straftat, sondern wegen ihrer politischen Haltung in Gewahrsam genommen. Sie befanden sich auf dem Weg nach Frankfurt am Main, zu den „Blockupy“-Protesten.

Die von einem breiten Bündnis getragenen Proteste gegen die Sparpolitik und gegen die Macht der Banken veranlassten die hessische Landesregierung zur Inszenierung eines Ausnahmezustandes, in dem jeder in den Augen der Staatsorgane zu einem potenziellen Gewalttäter wurde. Nur eine Demonstration wurde erlaubt, und sie wurde zu einem vollen Erfolg. Mehr als 25.000 Menschen kamen trotz der polizeilichen Hysterie. Es war die größte Kundgebung in Frankfurt seit langer Zeit. Sie war international, bunt, friedlich und subversiv fröhlich.

Viele hatten bereits das Ende von Occupy diagnostiziert; sie irrten. Denn Occupy ist längst zur Chiffre für einen neuen Typus sozialer Bewegungen geworden. Auf der Demonstration liefen die Bankenkritiker von Occupy zusammen mit Attac, Kernkraftgegnern, Anarchisten, Tierschützern, Sozialisten, Gewerkschaftsjugendlichen und einem überraschend großen Kontingent von Stuttgart-21-Gegnern, die zeigten, dass sie keineswegs nur die Probleme vor ihrer Haustür beschäftigen.

Symptom der Krise

Die sozialen Gruppierungen der siebziger und achtziger Jahre waren „Ein-Punkt-Bewegungen“, die ihre Probleme innerhalb des Systems lösen wollten. Occupy steht dagegen für einen systemischen Protest, dafür, dass man die unterschiedlichen Anliegen stärker gemeinsam begreift. Als Protest gegen ein System, in dem der Kapitalismus nicht mehr in Eintracht mit der Demokratie lebt, sondern sie aushebelt.

In Frankfurt reformierte sich eine außerparlamentarische Opposition, weil es eine parlamentarische nicht mehr gibt. Die Oppositionsparteien sind inzwischen farbige Varianten des Establishments geworden, das sie einst bekämpften. SPD und Grüne unterstützen den Fiskalpakt, die Frankfurter Grünen hatten gar den Polizeieinsatz gebilligt. Ihre Kritik an der Merkel-Regierung liegt im Detail, nicht in der grundsätzlichen Richtung. Folgerichtig waren weder SPD noch Grüne auf der Demonstration vertreten.

Nur die Linkspartei war sichtbar und präsent. Man war überrascht, dass sie noch etwas anderes kann, als sich schäbig zu streiten. Aber vielleicht war es auch einfach die Vorwegnahme der Zukunft: Denn falls die Linke so weitermacht, wird sie bald zur außerparlamentarischen Opposition gehören. Bei näherer Betrachtung war allerdings selbst der Auftritt der Linken ein Symptom ihrer Krise. Von den prominenten Vertretern des Reformer-Flügels war fast niemand gekommen – schließlich wollen sie ja ihre Partei auf Bündnisfähigkeit mit SPD und Grünen trimmen.

„Postdemokratie“

Aber warum reagierten die politischen Eliten so martialisch auf den Protest? Weder waren die Maßnahmen verhältnismäßig, noch wurden die Grundsätze der Meinungs- und Versammlungsfreiheit beachtet. Die Grundrechte wurden kurzerhand für Tausende außer Kraft gesetzt, weil man Gewalt von einzelnen Mitgliedern des Schwarzen Blocks fürchtete. Das ist nichts anderes als politische Sippenhaft. Nach dieser Logik müsste ein Drittel der Bundesligaspiele abgesagt werden, da sich unter den Fans auch immer ein paar Hooligans befinden.

Nicht zuletzt deshalb hatte man den Ausnahmezustand inszeniert, weil die Aktivisten von Blockupy ihre Ziele klug gewählt hatten. Sie protestierten nicht gegen die Regierung, sondern gegen ihre eigentlichen Herren: Gegen die Banken und vor allem gegen die neuralgische Pumpstation der europäischen Geldströme, ohne die die Zirkulation auf den Finanzmärkten und die Zahlungsfähigkeit der Staaten akut gefährdet ist – die Europäische Zentralbank.

Der Grund für die demokratische Regression steht für den Strukturwandel der Politik: In Frankfurt offenbarte sich, was man unter Experten „Postdemokratie“ nennt. In der Postdemokratie bleiben formale demokratische Prozesse bestehen, doch am Ende entscheidet nicht der demokratische Souverän. Maßgeblich sind die so genannten Sachzwänge, die in den meisten Fällen mit den Interessen der Banken übereinstimmen. Das hat die Glaubwürdigkeit erodieren lassen. Die Politik ist nun in Sorge um sich selbst – und reagiert mit Härte, damit im Fernsehen möglichst keine Bilder einer Gegenbewegung zu sehen sind.

In Frankfurt zeigte sich die Postdemokratie von ihrer illiberalen, autoritären Seite. Und so wurde eine friedliche Spontandemonstration geräumt – nur wenige Meter von der Paulskirche, in der 1848 die deutsche Demokratie ihren ersten Anlauf nahm. Symbolischer geht es kaum. Viele Veranstaltungen konnten gar nicht stattfinden. Die Lesung des Anthropologen und Anarchisten David Graeber, der gerade mit seinem Buch Schulden Furore macht, wurde vom Staatsschutz verboten. Das lässt Böses ahnen: Werden jetzt auch die Menschen beobachtet, die dieses Buch gekauft haben?

Oliver Nachtwey ist Soziologe und war bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt dabei


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