Cineastisches Attentat

Stammheim-"Tatort" Dominik Grafs neuer „Tatort“ „Der rote Schatten“ trifft die Staatsräson.

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Auf allen Kanälen pädagogisieren Experten zum „Deutschen Herbst '77“ - selbst der „Tatort“ beteiligt sich am Geschichtsunterricht. Im Zeitraffer: Ein Aktiv der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt Hanns-Martin Schleyer, um gefangene Genossen gegen den Industrieboss auszutauschen. Als Unterstützung kapern Palästinenser eine Lufthansamaschine auf Mallorca. Die Maschine wird nach einem Irrflug im somalischen Mogadischu von der GSG 9 gestürmt. Am Morgen des 18. Oktober werden die RAF-Gründer tot oder verletzt in der JVA Stuttgart-Stammheim aufgefunden. Schleyer liegt erschossen im Kofferraum eines PKW nahe Mulhouse.

40 Jahre später. Dem Südwestrundfunk (SWR) ist mit dem ermittelnden Duo Richy Müller und Felix Klare als Kommissare Lannert und Bootz ein „Stammheim-Tatort“ gelungen, der den Empörungskorridor weit aufreißt. Rädelsführer ist Deutschlands Star-Regisseur Dominik Graf.

Graf als RAF-Interpret

Die Preview des Streifens „Der rote Schatten“ lief am 23. September im Rahmen des Festivals „Moving History – 1967, der Deutsche Herbst und die RAF“ im Filmmuseum Potsdam. Die Erstausstrahlung ist am gewohnten Sendeplatz in der ARD am 15. Oktober um 20.15 Uhr.

Das „Tatort“-Feature ist ein posthumer Streifschuß der einstigen Stadtguerilla. Ruheständler der RAF, die rüstig Tageseinnahmen von Supermärkten einsammeln, die Stammheim-Gefangenen im toten Trakt und ein unter Mordverdacht stehender Kronzeuge flimmern über die Leinwand. Der Stoff für den SWR-„Tatort“ basiert auf den Recherchen eines Stuttgarter Journalisten. Er forschte ursprünglich zum Tod einer Mutter, sprach mit ihrer Tochter und landete bei einem RAF-Spitzel als Tatverdächtigem. Die Rechercheergebnisse flossen ins Drehbuch, und Graf setzte sie filmisch um.

Der von Graf verfilmte RAF-Aussteiger ist unschwer als der spätere Kronzeuge der Bundesanwaltschaft (BAW) Volker Speitel zu dechiffrieren. Speitel behauptete, die RAF-Anwälte Arndt Müller und Armin Newerla hätten in präparierten Akten die Stammheimer Gefangenen mit Knarren versorgt. Sein Verrat bescherte ihm eine milde Freiheitsstrafe, und ein vom Verfassungsschutz gekauftes Double zog für ihn sogar in den Bau ein.

Die Realität lässt sich nur noch als Fiktion erzählen. Mit GEZ-Gebühren wurde der Stammheim-Trakt 1-zu-1 nachgebaut. Graf greift in den Hegemoniekampf um „Stammheim“ ein. Er lässt einen früheren, mit den Ermittlungen um die Stammheimer Todesnacht beauftragten LKA-Beamten Baden-Württembergs schauspielern: „Das war Selbstmord unter Staatsaufsicht.“ Der Trakt sei verwanzt worden und Ermittler hätten mitgehört. Für Extralegales sei er nicht in den Staatsdienst gegangen, so der pensionierte Ethiker.

Temporären Atemstillstand löst beim Publikum die Folgeszene aus: Eine Todesschwadron stürmt in den 7. Stock des Gefängnisflügels, reißt die Zellentüren auf, liquidiert Andreas Baader und Jan-Carl Raspe mit Schusswaffen, stranguliert Gudrun Ensslin am Gitter des Zellenfensters und verletzt Irmgard Möller schlafend durch Messerstiche schwer. Tabubruch pur.

Hier hätte der Vorhang fallen müssen, der TV-Skandal wäre perfekt gewesen. Aber Graf filmt weiter, zieht das Tempo raus und sendet eine bizarre Schlussszene: Die Kamera schwenkt auf eine Tüte mit dem skelettierten Lieblingshamster der Tochter der mutmaßlich vom RAF-Spitzel ermordeten Mutter. Jenem verblichenen Hamster, den die Tochter während der Affäre ihrer Mutter mit dem Verräter hinter dessen Gartenlaube verbuddelt hatte. Rührend.

Die Attacke auf die Staatsräson der alten BRD und das fulminante Finale werden vom Regisseur in den letzten 15 Sendeminuten aufgeweicht. Grafs Konzession gegenüber der juristischen Abteilung des SWR.

Graf im Disput

Nach dem Abspann ist der Applaus im voll besetzten Kino anhaltend, aber nicht enthusiastisch. Der Moderator greift zum Mikrofon und bittet das „Tatort“-Ensemble mit Graf nach vorne. Der Moderator kalauert: „Ich hab´ da ´was nicht geRAFft.“ Der kalkulierte Schenkelklopfer bleibt im Saal resonanzlos. Er hat Mühe, verständliche Fragesätze zu formulieren, er ist für den Epilog fehlbesetzt. Er gibt zum Glück ins Publikum ab.

Der erste Zuschauerbeitrag trifft den Kern: „Warum endet der Film mit dem possierlichen Nager?“ Er erzähle damit das Drama der Ermordeten und ihrer Tochter zu Ende, erklärt Graf. Rätselraten im Saal ob der dramaturgischen Erklärung des Meisters.

Drohe ihm nicht ein Berufsverbot wegen „gebührenfinanzierter RAF-Propaganda“, zeigt sich ein zweiter Wortmelder besorgt. Als guter Demokrat hält er sich „Optionen in der Geschichtsdarstellung offen“, sagt Graf. Er wende sich gegen Pauschalurteile und wolle die RAF „aus einer anderen Ecke erklären.“

Ob die Szene des Staatsmords an den RAF-Gefangenen zu einer Kontroverse im Ensemble geführt habe, will der letzte Fragesteller wissen. Graf verneint. Wenn ihm staatsfeindliches Verhalten nachgesagt werden würde, sei ihm das „scheißegal“. Einige Ensemble-Mitstreiter quittieren diesen Fäkalbegriff mit staunenden Blicken, andere mit erkennbarem Kopfschütteln.

Wie viel Disharmonie die Dreharbeiten auch immer begleitet haben mag, die Tiefe dieses Staates lässt sich nach dem „Tatort“ ermessen, der Staatsschutzkomplott um „Stammheim“ entschlüsseln. Ein Beinahe-Skandal zur Primetime. Immerhin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Oliver Rast

Freier Journalist & schreibender Aktivist

Oliver Rast

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