Debüt und Abstieg in einer Saison

Fußball-Bundesliga Das Bundesliga-Intermezzo von Blau-Weiss 90 vor 30 Jahren.

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Am Ende reichte es nicht. Nach 34 Spieltagen beendete die Mannschaft mit nur 18 Pluspunkten und einem miserablen Torverhältnis die Saison als Schlusslicht in der Tabelle. Der Tabellenkeller war an 19 Spieltagen das sportliche Zuhause des Westberliner Fußballclubs Blau-Weiss 90 aus dem Ortsteil Mariendorf. Nach einer Spielzeit in der Elite-Liga mußten die Blau-Weissen wieder den Gang ins Unterhaus antreten. Das war vor dreißig Jahren in der Bundesligasaison 1986/87.

Einer von damals ist Michael „Mike“ Schmidt. Drei Jahrzehnte später schmeißt er bei seinem Ex-Club den Grill an und wendet Bratwürste hin und her. Ein Ex-Profi ohne Allüren. „Am Grill stehe ich aber nur bei schönem Wetter“, sagt er und lacht.

Schmidt ist im Berliner Bezirk Charlottenburg aufgewachsen. Der Vater war bei den Berliner Verkehrsbetrieben, der BVG, beschäftigt. Die Mutter organisierte den familiären Haushalt mit mehreren Kindern. Das Vereinsleben begann für Schmidt bei Hertha 06 Charlottenburg. Nach einigen Jahren wechselte er zum SCC, dem Sport-Club Charlottenburg.

Schmidt zählte zum Kader der legendären HSV-Elf um Felix Magath und Horst Hrubesch, die 1983 nicht nur Deutscher Meister wurde, sondern auch gegen Juventus Turin den Europapokal der Landesmeister an die Elbe holte. „Nach einem bestandenen Probetraining bekam ich als hoffnungsvolles Talent einen Vertrag im Team von Ernst Happel“, erzählt Schmidt. Der Erfolgstrainer aus Wien galt als „Grantler“. Ein Charakterzug, den Schmidt bestätigt. „Happel hat mich immer nur mit ´junger Mann´ angeredet. Mit ihm habe ich in dem Jahr beim HSV vielleicht drei Sätze gesprochen.“

Im Training des HSV ging es robust zu. „Zweimal haben mir Spieler aus der ersten Reihe das Schienbein beim Training aufgeschlitzt“, sagt Schmidt. Protest gegen die rüden Attacken wurde als Schwäche ausgelegt, also verzichteten die Jung-Profis darauf. Boten die jungen Burschen den gestandenen Spielern Paroli und langten selbst einmal richtig zu, schritt Happel ein. “Gegen uns junge Spieler”, sagt Schmidt. “Wir waren für die Stammspieler nur Spielbälle”, stellt er rückblickend fest.

Durchsetzen konnte er sich bei der Hamburger Spitzenmannschaft nicht. Das Angebot von Blau-Weiss 90 kam gerade richtig, um einen neuen Anlauf zu starten. Mit den Blau-Weissen ging es von der Oberliga bis in die Bundesliga.

Höhenflug

Einen PR-Coup landeten die Mariendorfer nach dem Erstliga-Aufstieg mit einem Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“. Nach der skurrilen Erstdarbietung der Blau-Weiss-Hymne „Wir sind heiß auf Blau-Weiss“ durch den Schlagerbarden Bernhard Brink war die Fußballtruppe aus der Frontstadt Westberlin in aller Munde. Bei der Sportstudio-Gesangseinlage stand Schmidt weit vorne. „Brink war ja eigentlich auf dem absteigenden Ast, nach dem Auftritt bekam er wieder Aufträge“, sagt Schmidt.

Der Auftstieg von Blau-Weiss 90 stellte die Rangordnung im Westberliner Fußball auf den Kopf. Während die Blau-Weissen erstklassig wurden, stieg der große Lokalrivale Hertha BSC in die Amateuoberliga ab. Die Herthaner mussten ihr Domizil im Olympiastadion komplett an die Konkurrenz aus Mariendorf abtreten und Quartier im maroden Moabiter Poststadion machen. Eine zusätzliche Schmach.

Die Höhepunkte der Erstligasaison der Blau-Weissen unter ihrem Trainer Bernd Hoss sind schnell erzählt. Der erste von insgesamt drei Bundesligasiegen gehört dazu. Den historischen 2:3-Sieg seines Teams gegen Borussia Mönchengladbach musste Schmidt von der Tribüne aus verfolgen. „Zum Trainingsauftakt habe ich mir einen Mittelfußbruch zugezogen“, sagt er mit etwas Wehmut in der Stimme. Schlagzeilen machte ein Spieler, der als Topscorer eine steile Karriere hinlegen sollte: Karl-Heinz Riedle. Schmidts erster Bundesligaeinsatz war gegen den VfL Bochum am 8. Spieltag. Blau-Weiss trennte sich von dem Club aus dem Ruhrpott 1:1. Insgesamt absolvierte er 26 Erstligaspiele.

Beim Remis zu Hause gegen die Bayern war Schmidt dabei. Der von der Krefelder Grotenburg-Kampfbahn gekommene Horst Feilzer konnte per Freistoß kurz vor Abpfiff den belgischen Nationaltorhüter Jean-Marie Pfaff überwinden. Randnotizen der Fußballgeschichte, aber Wegmarken in der Vereinschronik von Blau-Weiss 90.

Publikumsliebling war zweifellos der Mannschaftskapitän Hans-Peter Stark. Ein Urgestein des Westberliner Fußballs, der mit seiner Familie auf dem Wochenmarkt vor dem Schöneberger Rathaus Obst und Gemüse verkaufte.

Den Gang in die Zweitklassigkeit konnte auch Hoss nicht abwenden. Schmidt erinntert sich an eigenwillige Methoden seines Trainers, die weit über spieltaktische Finessen hinausgingen. Hoss habe sich vor Spielen die Karten legen und Verletzungen seiner Spieler mit Tinkturen und Ritualen behandeln lassen. „Er hatte ein Faible für weiße Magie“, sagt Schmidt. Die “magischen” Heilpraktiken musste Schmidt verschiedentlich selbst in Anspruch nehmen. „Irgendwann bekam ich eine Rasenallergie.” Eigentlich ein Grund, mit dem Rasenballsport aufhören zu müssen. Sein Trainer sei mit ihm zu einer Wunderheilerin gegangen. Er könne nicht mehr genau sagen, was mit ihm in der Sitzung passierte, die Allergie war jedenfalls weg – und trat auch nicht wieder auf. Wer heilt hat recht.

Nullpunkt

Der sofortige Abstieg war nicht zwangsläufig“, sagt der seit zwei Jahren amtierende Präsident von Blau-Weiss 90 Michael Meister. Bis drei Spieltage vor Saisonabschluss hatte Blau-Weiss 90 eine reelle Chance auf den Klassenerhalt. Der vor ihnen platzierte FC Homburg 08 aus dem 40.000 Einwohnerstädtchen erreichte vor Blau-Weiss und Fortuna Düsseldorf den rettenden Relegationsplatz. Die Relegationsspiele gegen den dritten der zweiten Bundesliga, den FC St. Pauli, konnten die Saarländer knapp für sich entscheiden. Einzig in der Zuschauerbilanz rangierte Blau-Weiss 90 nicht auf einem Abstiegsplatz. Nur fünf Teams konnten mehr Zuschauer zu Heimspielen mobilisieren als der Mariendorfer Ortsverein. Im Schnitt sahen annährend 21.000 Zuschauer die Begegnungen der Blau-Weissen im Olympiastadion.

Für Meister war der sportliche Abstieg aus der Ersten Bundesliga „nicht das Problem gewesen“. Er macht eher die „amateurhafte“ Führung um den damaligen Mäzen Konrad Kropatschek für das Vereinsdesaster verantwortlich. Der Finanzjongleur Kropatschek sammelte Verbindlichkeiten und ließ den Verein auf einem Schuldenberg sitzen. Jener Kropatschek, der es aufgrund von Betrugsdelikten vor seiner Dealerei mit Spielern von Blau-Weiss bis in die Primetime des ZDF schaffte. In der Sendung „Aktenzeichen xy“ wurde 1976 öffentlich nach ihm gefahndet. Nach dem Lizenzentzug kam der Konkurs. Die finanzielle Misere wurde zur sportlichen. Ein Nachfolgeverein unter dem Label „SV Blau Weiss Berlin“ wurde gegründet. Ein Neubeginn ganz unten, Kreisliga C. Das war 1992.

Schmidt war gerade einmal 30 Jahre alt und brachte einige Erst- und reichlich Zweitligaerfahrung mit. Er war für die zweite höchste Spielklasse allemal tauglich. „Ich hatte einige Angebote von Vereinen aus der Zweiten Bundesliga“, sagt er. Ein Kreuzbandriss machte allerdings einen Strich durch die Rechnung. Das Geschäft ist gnadenlos. „Welcher Verein nimmt schon einen Spieler um die 30 mit einer solch schweren Verletzung?“ fragt er fast verständnisvoll. „Denen war das Risiko einfach zu groß, ob ich überhaupt wieder richtig auf die Beine komme“, schildert er.

Schmidt machte nach der auskurierten Verletzung bei Stahl Brandenburg an der Havel Station. Er spielte bei dem damaligen Drittligisten eine Saison und ließ seine Karriere später bei den Füchsen aus Reinickendorf in Berlin ausklingen.

Aufbauarbeit

Nach einem jahrelangen Herumdümpeln in der Bezirks- und Landesliga bewegt sich Blau-Weiss 90 jetzt in der sechsten Liga, der Berlin-Liga. Warum engagiert sich einer wie Meister als Vereinsboss? Zum einen lief er selbst ab Ende der 1970 Jahre im Dress von Blau-Weiss auf. Zum anderen soll „der Verein nicht auf ewig unterklassig bleiben“, sagt er. Die Blickrichtung ist klar. Mit einem „5-Jahresplan“ will Meister seinen Verein Etage für Etage in die 3. Liga des Profi-Fußballs bringen. An einen „Durchmarsch“ glaubt aber auch er nicht, das sei „Wunschdenken“.

Nein, ein Komplettumbau der aktuellen Mannschaft stehe nicht an. „Aber wir werden Spieler mit Erfahrungen aus den Ober- und Regionalligen holen“, sagt er.

Dem Club steht so oder so ein harter Weg bevor. Die Tücken des unterklassigen Spielbetriebs sind unübersehbar. Es ist der 7. Mai, ein Sonntagnachmittag. Ein Kick gegen den BFC Preussen aus dem benachbarten Lankwitz steht auf dem Spielplan.

Im Eingangsbereich vor dem Einlass zur Blau-Weiss-Spielstätte sind noch nicht alle Spuren des ungeliebten Interimsnamen „SV Blau Weiss Berlin“ beseitigt. Einige Schaukästen und Banner tragen diesen noch. Und erst vor einigen Wochen hat das Blau-Weiss-Casino auf dem Platzgelände eine neue Werbetafel mit korrekter Clubbezeichnung erhalten.

Im Kassenhäuschen sitzt eine Endfünzigerin. Neben ihr zwei Jungs aus dem E-Jugendbereich des Vereins, die beim Abreißen der Karten und Ankreuzen der Preiskategorie helfen: Vollpreis für Ewachsene 6 Euro, ermäßigter Preis für Rentner, Schwerbehinderte und Studierende 4,50 Euro, Kinder 1 Euro. Extra für den Spieltag gedruckte Eintrittskarten gibt es. Da macht es auch nichts, dass die Uhrzeit auf dem Ticket mit der eigentlichen Anstoßzeit um eine halbe Stunde differiert. Ein Heft zum Spiel gibt es dagegen nicht. Die Dame am Einlass ist sich nicht ganz sicher, ob ein Infoblättchen im digitalen Schnelldruckverfahren überhaupt fabriziert wurden. „Ich habe unseren Präsidenten heute noch nicht gesehen. Vielleicht hat der welche dabei“, sagt sie. Der Präsident ist der zentrale Ansprechpartner, auch für die Papierbeilage zum Spiel.

Spielszene

Der heimische Platz an der Rathausstrasse ist für höhere Ligen nicht ausgelegt. Es fehlen getrennte Zugänge für Gästefans und Zäune. Flutlichtmasten und eine Anzeigentafel sucht man auch vergeblich. Den Spielstand muss man erfragen, wenn man nicht aufmerksam war oder zu spät kam. Lautsprecherdurchsagen unterbleiben, um die umliegende Nachbarschaft nicht in der Wochenenderuhe zu stören. Eine Eckstoßfahne liegt im Matsch, ein Wasserrohrbruch. Gänseblümchen sprießen an den Seitenlinien. Das Grünflächenamt des Bezirks fand keine Zeit, den Rasen zu stutzen.

Mit 77 zahlenden Zuschauern war die Heimpartie kein Publikumsmagnet. Einer mit Dauerkarte ist Sascha Lamprecht. Blau-Weiss-Fan der ersten Stunde. Seit 1984. Alle Höhen und Tiefen hat er mitgemacht. Der Fan-Kern umfasst heute kaum 25 Unentwegte. „Viele von damals“, sagt Lamprecht. Vereinstreue sei ihm wichtig, betont er. Dieses Credo trägt auch das größte von den gespannten Fan-Transparenten: „Blau-Weiss 90 Berlin. Seit 1984 immer treu.“ Aber auch die „Havelszene“ aus Spandau, die seit 1989 für „BW-90 on Tour“ ist, beflaggt vor dem kleinen Fan-Pool am hüfthohen Seitengeländer. Die Identifikation mit dem Verein ist nach der Annahme des alten Namens vor zwei Jahren nach dem Ablauf einer Sperrfrist wieder gestiegen. „Wir als Fans finden es schöner, dass wir wieder Blau-Weiss 90 sind“, sagt Lamprecht. „Fanfreundschaften gibt es auch. Mit dem HFC Falke zum Beispiel“, sagt ein weiterer Langzeit-Fan, der anonym bleiben will. Der HFC Falke wurde von HSV-Fans gegründet, die sich der Kommerzialisierung des früheren Topteams verweigern.

Nur einmal kommt im Derby gegen Preussen ein Hauch von Stimmung auf. Kurz nach dem Siegtreffer zum 2:1 der Blau-Weissen intoniert Lamprecht einen Schlachtruf, seine Kumpanen stimmen mit ein.

Der Blau-Weiss-Präsident Meister hat ambitionierte Ziele ausgegeben. „Blau-Weiss 90 ist seit Jahrzehnten ein Begriff“, betont der Vereinsvorsitzende. Das stimmt - und nicht nur das. Blau-Weiss 90 kann auf eine lange Vereinsgeschichte zurückblicken. Einer der beiden Vorläufervereine, der Berliner TuFC Union 1892, brachte es 1905 sogar zur Deutschen Meisterschaft. Aktuell feiern die Blau-Weissen wieder Meisterschaften. Im vergangenen Jahr errangen die alten Herren die Deutsche Meisterschaft im Ü40-Wettbewerb.

Auch Schmidt wünscht sich den weiteren Aufstieg. Er tritt aber auf die Euphoriebremse.“Viele haben schon versucht, die ´dritte Kraft´ hinter Hertha und Union zu werden”, sagt er.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Oliver Rast

Freier Journalist & schreibender Aktivist

Oliver Rast

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