Zerbrechlicher Superheld

Graphic Novel Jeff Lemire zählt zu den wichtigsten Comic-Autoren Nordamerikas. Nun ist der erste Teil der „Geschichten vom Land“ auf Deutsch erschienen

Jeff Lemire liebt Freaks. Die Comics des 1979 geborenen Kanadiers handeln von in Bandagen gehüllten Fremden (The Nobody) oder Geweih tragenden Jungen (Sweet Tooth) und nehmen dabei kontinuierlich eine Außenseiterperspektive ein. So auch im ersten Teil der Essex County Trilogie, den nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Geschichten vom Land.

Lemire erzählt vom zehnjährigen Lester, der nach dem Tod seiner Mutter auf der Farm des Onkels lebt. Man sieht Lester stets mit einer Maske. Mit ihr, dem Umhang und den Stulpenhandschuhen wirkt er in der ländlichen Umgebung wie ein skurriler Fremdkörper. Die Gegend ist öde, das Leben langweilig; Lesters einzige Freizeitvergnügungen bestehen aus Eishockey im Fernsehen und dem Kauf von Comics an der nächsten Tankstelle. Dort trifft er auf den ehemaligen Eishockey-Spieler Jimmy Lebeuf, der seit einem Unfall etwas verlangsamt ist und nun als Tankwart arbeitet. Schnell beginnen sich der einsame Junge und der Ex-Profispieler, der ebenfalls gerne Comics liest, anzufreunden. Bald wird Lebeuf von Lester in ein Geheimnis eingeweiht: Er ist überzeugt, dass eine Invasion von Außerirdischen bevorsteht. Die beiden beginnen, ein Fort zur Verteidigung zu errichten. Damit belastet Lester das Verhältnis zu seinem Onkel weiter, der dem weltfremden Verhalten des eher unfreiwillig aufgenommenen Zöglings hilflos gegenüber steht. Der Onkel gibt Lebeuf die Schuld.

Breitwand-Optik

Die vier Anfangsseiten bieten bereits eine perfekte Synopsis von Vorgehensweise und Aussage. In dicken Tuschestrichen zeigt die wortlose Sequenz im ersten Bild ein Windrad und im zweiten einen Kornspeicher. Die Ansicht von Lesters Hinterkopf beendet die erste Seite. Im Anschluss schreitet die tragikomische Gestalt des verkleideten Jungen über verlassene Felder, um sich dann unspektakulär und eher beiläufig in die Luft zu erheben.

Nachdem der Leser zur vierten Seite umgeblättert hat, springt ihn der Held in einem radikalen Gegenschnitt förmlich an. Der Autor nutzt hier die zeichnerische Dynamik der Superheldenschule, indem er die Proportionen der Figur das Panel sprengen lässt. Diese dramatische Pose konterkariert nicht nur Lesters schmächtige­ ­Gestalt und den ruhigen Anfang. Sie visualisiert Jeff Lemires Idee von einem freakischen Außenseitertum, das überlebenswichtig werden kann, dargestellt durch die subjektive Empfindung des Protagonisten. Bildlich angelegt ist dies im imposanten Widescreen-Stil, der 1999 in den USA von Zeichner Bryan Hitch für Warren Ellis’ Superhelden-Saga The Authority popularisiert wurde. Dem Kino entlehnt, wird er gern zur eindrucksvolleren Veranschaulichung der genreüblichen Schlachten übermächtiger Superwesen eingesetzt. Darüber hinaus verwendet Lemire die mit dieser Breitwand-Optik oft einhergehende Erzähltechnik der Dekompression. Diese Verfahrensweise kommt häufig ohne Text aus und fokussiert die Momentaufnahme.

Lemire greift diesen kinematografischen Stil nicht nur zur Intensivierung seiner Erzählung auf. Er zitiert gleichzeitig die Stilistik des Genres, das die Fantasien des Comic-Lesers Lester beflügelt. So nutzt und dekonstruiert er im selben Bild die typischen Genrekonventionen des Superheldencomics. Zusätzliche Brechung erfährt dieses Stilzitat durch den Verzicht auf Farbe und den reduzierten, scheinbar nachlässig hingeworfenen Strich, dessen Grobheit auch für das karge Lebensumfeld in Essex County steht. Diesen schroffen Bildern der fiktiven Version seiner Heimat in Kanada stellt Lemire gleichsam hingehauchte Bleistiftsequenzen an die Seite. In ätherisch zarten und auf berührende Weise traurigen Bildern erzählen diese vom Tode Lesters Mutter, deren schmerzlicher Verlust den Jungen zu ihrem Bruder führte.

Riesenhelden, Minihelden

So klug und einfühlsam ist die Essex County Trilogy erzählt, dass sie es im noch laufenden Canada-Reads-Wettbewerb um den besten kanadischen Roman der letzten zehn Jahre auf die Shortlist gebracht hat – als einziger Comic. Für Lemire sind solche kategorischen Einordnungen aber generell unbedeutend. Vergangenes Jahr äußerte sich der Künstler gegenüber der kanadischen Zeitung The Toronto Star zu der seiner Meinung nach unnötigen Differenzierung zwischen Superhelden- und Independent-Comics: „Ich glaube, dass gute Comics gute Comics sind und dass das Thema oder Genre dabei keine Rolle spielt.“

Folgerichtig ging Jeff Lemire zum amerikanischen Verlag DC, wo er seit 2010 Serien wie Superboy oder The Atom verfasst. Denn ob der Kanadier nun aus den Teenager-Jahren Superboys erzählt, der ein Klon aus der DNA von Superman und dessen Erzfeind Lex Luthor ist, oder von Atom, dem kleinsten Superhelden der Welt – im Mittelpunkt seiner Geschichten stehen Menschen. Es sind Menschen von hohem Eigensinn und großer Konsequenz, das macht sie in den Augen ihrer Umwelt zu Freaks.


Essex County 1: Geschichten vom LandJeff Lemire edition 52, 112 Seiten 11

Zum Blog von Jeff Lemire

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