Des Pudels Kern

Avantgarde Joan Mitchell war schon als Twen in den 50ern erfolgreich. Auch weil sie sich als Frau abseits des Wettbewerbs sah
Ausgabe 46/2015

Die Revolution hatte gesiegt. Anderthalb Jahrhunderte hatte Europa mit hochnäsiger Geringschätzung auf die Werke mutiger Autodidakten, emigrierter Düsseldorfer Malerschüler und stiller Meister der Moderne von Winslow Homer bis Edward Hopper geschaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg endlich hatten sich US-amerikanische Maler nicht nur etabliert, sondern mit den Versionen ihrer radikalen Abstraktion die Führung übernommen. Das alte Europa war vom kraftvollen Gestus der ersten abstrakten Expressionisten abgehängt worden.

Das Kölner Museum Ludwig berichtet in seiner ständigen Ausstellung maßgeblich von dieser Revolution und ihren Folgen. So ist eigentlich kaum ein besserer Ort denkbar, um das längst noch nicht komplett kanonisierte Werk einer Künstlerin zu zeigen, die unmittelbar von jener neuen Malerei beeinflusst war. Debütiert hat die Joan-Mitchell-Retrospektive im Kunsthaus Bregenz, dort lange vorbereitet von Yilmaz Dziewior. Als ihn just während der Suche nach einem Ausstellungsort in Deutschland das Museum Ludwig zum Direktor berief, hatte er auch den rechten Ort gefunden. In Köln wandelt sich die herausfordernd reduzierte Kunsthallen-Show zur musealen Ausstellung. Eine gute Idee, geben etwa im Archiv-Bereich nun zwölf Vitrinen Zeugnis von einem außergewöhnlichen Leben. Joan Mitchell wurde 1925 in großbürgerliche Verhältnisse geboren. Die kunstsinnigen Eltern ließen den Interessen der Tochter freie Bahn, trotz aller Begeisterung für Literatur und Kunst plante diese jedoch zunächst eine Karriere im Eiskunstlauf. Fotografien zeigen den Teenager auf Kufen, doch gleich daneben: Belege ihres Studiums am Art Institute of Chicago.

Frühe Werke vom Beginn der 50er bezeugen ihre Auseinandersetzung mit der europäischen Avantgarde von Kubismus bis Expressionismus. Aber ein paar Schritte durch den ersten Raum genügen, um Mitchells rasante Entwicklung hin zu einem selbstbewussten Stil nachzuvollziehen. Völlig souverän erscheint etwa bereits Ladybug von 1957, eine Hommage an die Sängerin Billie Holiday. In freien Formen konzentrieren sich die Linien um ein Zentrum. Je näher man den Werken kommt, desto vielfältiger erscheinen Strich und Auftragsweise, ja umso mehr Farbtöne sind auszumachen, bis sich alle Vorstellungen vom Werk auflösen und man verblüfft zurückweicht, um sich zu vergewissern. In dieser Überprüfung des Ganzen und der eigenen Wahrnehmung erschließt sich die Konsistenz von Mitchells Malerei, als System charakteristischer Linienführungen und Farbkombinationen. Da ist die immer wieder mal ausgesparte linke obere Ecke, nicht selten grenzt ein einzelner Pinselstrich sie ab. Tatsächlich: Da passt nichts mehr hin. Was dafür nahezu immer passt, ist ein pastellenes Violett, das sich bis ins Spätwerk behauptet.

New York School

Schon als Twen hat sie nahezu jährlich Einzelausstellungen – heute ist das keine Besonderheit, sehr wohl aber in der Nachkriegsavantgarde, insbesondere für eine Frau. Schnell wird sie Teil der New York School, gilt als prägende Figur der zweiten Generation des abstrakten Expressionismus. „Ich hatte es leichter, da ich als Frau niemals dachte, je am großen Wettbewerb teilnehmen zu können“, kommentiert sie später lakonisch. Doch sie konnte, als eine der wenigen neben Helen Frankenthaler. Tatsächlich, die Revolution war gewonnen.

Doch wessen Revolution? Das große Weiter jener Tage interessierte sie so wenig wie die Konzepte der Avantgarde. Sie wollte nicht einmal von ihren europäischen Einflüssen lassen. Vielleicht war es deswegen, dass Clement Greenberg, Doyen der neuen Malerei, nur wenig von ihr hielt. Gleichwohl war sie, bei allen ihr nachgesagten Eigenheiten, keinesfalls Außenseiter. Belege vielfältiger Korrespondenzen mit Merce Cunningham, Paul Auster oder Samuel Beckett (der mit „Love Sam“ zeichnet) und diverse künstlerische Kollaborationen mit Schriftstellern und Poeten zeichnen das Bild einer im Sozialen Eingebundenen. Dann wieder erfährt man aus einer Video-Dokumentation, so richtig wohl fühlte sie sich nur in der Nähe ihres großen schwarzen Pudels George.

Nahezu enigmatisch muss der New Yorker Hip-Kunst Mitchells Entscheidung erschienen sein, nach Paris zu ziehen, in die Stadt des Gestern, so als zöge heute einer von Berlin nach, nun ja, Köln. Doch etwas ist anders in ihrer Malerei, etwas, das vielleicht in New York keinen Platz gehabt hätte. Während ihre Kollegen zusehends konzeptuell malen oder dem großen inneren Ich Raum auf der Leinwand geben, beschreibt Mitchells Kunst Prozesse der Wahrnehmung und des Erinnerns. Landschaften werden zu ihrem Hauptmotiv. Cézanne bleibt ihr Fixpunkt, doch noch konsequenter als er malt sie jenes Echo, das die Landschaft in ihr hinterlässt.

In Paris wandelt sich ihr Stil, Flächen und bald rechteckige Formen erobern die Kompositionen. Neue Farben dominieren, wie das rauschhafte Orange in Closed Territory, einem Triptychon aus dem Jahr 1973, das einen gesamten Raum beherrscht. Eingefangen und entgrenzt zugleich, verliert man die Orientierung im Versuch, sich auf das Bild zuzubewegen. In den 80ern werden die Flächen unruhiger, fast fauvistisch scheinen die Reihen einzelner, kräftiger Striche, die den Bildraum ausfüllen.

Tragbare Leinwände

Ganz am Ende der Ausstellung geschieht etwas Besonderes, für das man jedem Besucher die ganze Freiheit des Raums für sich alleine wünschen mag: Es ist in einem jener nach oben geöffneten, also vom Licht der Dachluken erhellten Räume, die zugleich von der ersten Etage aus einsehbar sind. Alle vier Wände zeigen ein großes Werk aus je vier Leinwänden (Mitchell wählte jede einzelne Leinwand stets so, dass sie diese noch selbst tragen konnte). Ein kleiner Garten, Abschied, Minnesota und eine Huldigung ihrer Analytikerin Edrita Fried sind die Themen. Die verschiedenen Rhythmen der Werke lösen diese langsam aus dem Gleichklang der Raumwirkung, bald fokussiert man die einzelnen Leinwände, wundert sich ob der Übergänge, findet hier ein Brennen im Unterholz, dort das Sonnenlicht, mal zieht es einen nach rechts, mal starrt man auf das akzentuierte Zentrum.

Langsam wird klar, was Mitchell meinte, als sie 1985, nach langem Krankenhausaufenthalt, dem Philosophen Yves Michaud sagte: „Für viele Menschen ist Sehen nichts Natürliches. Es ist eine Bewusstheit, eine Fähigkeit, die sie verloren haben.“ Hier, inmitten der Werke, beginnt man zu verstehen, was „Sehen“ für Joan Mitchell bedeutete. Davon wollte sie berichten. Die Revolution? Für die ist es noch viel zu früh, wir müssen noch so viel lernen.

Info

Joan Mitchell. Retrospective. Her Life and Paintings Museum Ludwig Köln, 14. November bis 21. Februar 2016

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