Galle spucken

Musik Auf ihrem neuen Album pflegen die Sleaford Mods aus Nottingham etwas, das hierzulande seit langem verschwunden ist: Klassenbewusstsein
Ausgabe 30/2015

Ein Spaziergang an einem milden Sommerabend. Der Weg führt durch eine Heidelandschaft, vorbei an einer Betreuungseinrichtung für Kinder. Zwei junge Pfleger sitzen auf einer Bank, der eine Satz, den ich aufschnappe, beamt mich machtvoll in meine Zivildienstzeit und noch weiter zurück, hinein in Szenen des jungen deutschen Films der 70er: „Der Rio Reiser kämpfte ja für die Befreiung der Arbeiter.“

Kein Gewerkschafter, kein Theoretiker, erst recht kein Politiker, sondern ein Rocksänger! Dass dem so ist, liegt nicht allein an der medialen Präsenz einer Stimme. Viel zu nachhaltig übertönte einst die revolutionäre Euphorie der Popmusik alle Traditionen rustikaler, an die Unterdrückten adressierter Folksongs oder die deklamatorische Strenge ernster Liedermacher. Aber Reiser und seine Band Ton Steine Scherben sind leider schon lang nicht mehr. Warum nannte der junge Mann also keine Zeitgenossen? Etwa Jason Williamson, Sänger des Duos Sleaford Mods.

Ob er sie kennt? Fast kometenhaft etablierten sich die Briten während der vergangenen drei Jahre in den Boheme- und Undergroundszenen. Ihr cleverer Bandname mag Ältere an ellenlange Teenie-Diskussionen erinnern, ob die britische Mod-Kultur der 60er nun working class oder elitär gewesen sei. Vielleicht beides zugleich.

Montags Gabelstapler

Das gab’s auch mal hier. Noch in den 80ern zelebrierte in den Clubs des Ruhrgebiets eine nur peripher studentische Szene die Freiheit des Wochenendes. Der tollste Tänzer im legendären Bochumer Logo fuhr montags wieder Gabelstapler. Er hätte sicher auch die Sleaford Mods goutiert. Ihr Bandmodell – ein Stiller, der die elektronischen Sounds produziert, plus ein charismatischer Vokalist – geht zurück auf das Duo Suicide, legendäre Grenzgänger im New York der späten 70er. Es dauerte einige Jahre des Experimentierens mit gesampeltem Soul, Punk und Dub Reggae, bis der spezifische Sleaford-Mods-Sound entstand. In seinem stoischen Groove verweist er auf ewig korrekte Bands wie The Fall, bei denen man sich im Kneipenrund eher rechtfertigen muss, wenn man sie nicht mag. Gut abgehangene Hipness.

Album Nummer acht (das dritte nach ihrem Durchbruch zu internationalem Ruhm) präsentiert die Sleaford Mods auf der Höhe ihrer Form. Weiterhin dominieren ein treibender Post-Punk-Bass, manchmal recht funky Drums und der angespannte, im Gegensatz zum Rap nur leicht rhythmisierende Vortrag im East-Midland-Akzent. Diesmal wagt Williamson etwas mehr Gesang, was in den fast schon rührenden Effekt mündet, dass er an einer Stelle das Wort „alive“ mit einem störrischen Pathos versieht, wie es das sonst nur Rihanna vermag.

Der Gesang verleiht neue Facetten und nimmt doch etwas vom speziellen Reiz der Mods. Nur im gewohnten Format, so wird es klar, gelingt die Alleinstellung: Die Band, welche die Unmittelbarkeit des Missfallens, des humorigen Spotts oder des Zorns vertont. Manchmal kommen der musikalischen Fassung des Kneipengesprächs dabei die Themen abhanden, die Karrieren der in den Texten abgewatschten Nick Clegg und Ed Miliband waren schon vor Erscheinen des Albums Geschichte.

Doch hinter dem Aktuellen lugt sowieso omnipräsent die Geschichte. Nicht nur als Kindheitserinnerung an die titelgebende Supermarktkette Key Markets, sondern als bleiern düsteres Eingeständnis: Auf Befreiung gibt es derzeit keine Hoffnung. Die Sleaford Mods rütteln nicht auf, sie spucken Galle. Dass allein diese Tonart der politischen Popmusik bleibt, ist nun schon 30 Jahre so. Eine Allianz der besten Bands und Musiker stellte sich 1984 an die Seite der streikenden Bergarbeiter. Flammende Songs wie Keep On Keepin On der Redskins oder Big Boss Groove von Style Council, Billy Braggs grimmiges Which Side Are You On? sowie Benefizkonzerte von Top-Ten-Acts wie Wham! schürten tatsächlich die Hoffnung, man könne Margaret Thatcher trotzen. Im Bombast von Test Depts Shoulder to Shoulder und der dramatischen Vorahnung in Style Councils My Ever Changing Moods klang dann bereits an, was 1985 nicht alleine die Arbeiterschaft, sondern auch Pop in eine nicht enden wollende Depression zog. Die Sleaford Mods sind, beide Anfang 40, Kinder dieser Zeit und müssen das Erbe schultern.

Trotz allem lebt in Großbritannien noch, was bei uns längst als Relikt erscheint. Wenn Williamson sein Gegenüber als Poser mit Lederjacke und Motorrad aus den 50ern beschimpft und ihn daran erinnert, dass einer aus dem Vorort Carlton niemals jener – eh bescheuerte – Snake Plissken aus John Carpenters Die Klapperschlange wird, spricht da ein Klassenbewusstsein, das bei uns mit den Henkelmännern verschwand. So verfehlt die Geste bei uns ihre Wirkung, wird zum idealisierten Blick auf ein fernes Working Class Britain.

Dem Beat tut das keinen Abbruch, er hat das spezielle Etwas für zwölf neue Songs. Derweil sitzen die beiden Pfleger auf ihrer Bank am Waldrand und sinnieren über Rio Reiser und die unterdrückten Arbeiter, ohne zu merken, dass sie selbst gemeint sein könnten. Ob ihnen die Sleaford Mods das vermitteln würden?

Info

Key Markets Sleaford Mods Harbinger Sound / Cargo Records 2015

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