Wanted: Der intelligente Selbstoptimierer

KRANKENVERSORGUNG Die täglich neuen Vorschläge zur Finanzierung der Krankenkosten bergen nur eine Botschaft: "So wie es ist, kann es nicht bleiben"

Die Diskussion um Finanzierung und Strukturen der Krankenversorgung ist mit dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform 2000 aus dem Hause Fischer in eine neue Phase getreten. Kaum ist die neue Regelung ein Vierteljahr in Kraft, schon melden die verschiedenen Interessengruppen neue Begehrlichkeiten an. Die Arbeitgeber wollen nur noch die günstigsten Kassenbeitragssätze zahlen, die Kassen wollen sich von Zahlungen an die Ärzte entlasten und nur noch den ärztlichen Erfolg honorieren, die Ersatzkassen fordern, die "Jagd auf die Gesunden" zu stoppen und den Kassenwechsel zu erschweren. Im Gesundheitsministerium wiederum werden Ideen entwickelt, wie die Einnahmen-Seite der Gesetzlichen Krankenversicherung verbessert werden kann: Von der Zahlungspflicht der nicht-erziehenden, mitversicherten Ehefrau bis zur Einbeziehung von Gewinnen aus Vermietungen und Aktienausschüttungen sind etliche Vorschläge im Angebot.

Die SPD, gerade dabei, von der Verteilungsgerechtigkeit programmatisch Abschied zu nehmen, nutzt dagegen die günstige Gelegenheit, sich um den Wirtschaftsstandort Deutschland verdient zu machen und regt an, die Eigenbeteiligung der Versicherten an den Krankenversorgungsleistungen zu erhöhen und damit die Unternehmen zu entlasten. Am weitesten geht die Initiative des Spezialisten-Zirkels Club of Health, der eine Prioritätenliste für die medizinische Behandlung vorlegen will. Vorbild ist das Krankenversorgungsmodell des US-Bundesstaates Oregon, dessen offenem Rationierungs-Kurs nachgeeifert werden soll.

Viele der Vorschläge, die in den letzten Wochen jeweils einige Tage lang die Nachrichten beherrschten, sind nicht neu und werden bald wieder vergessen sein. Die gegenwärtige Debatte ist nichts weiter als die Fortsetzung der Reform-Debatten aus der Ära Kohl, und sie verfestigt in den Köpfen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eine Botschaft: So wie es ist, kann es nicht bleiben.

Insofern sind jene Vorschläge am bemerkenswertesten, die aus dem sozialdemokratisch-neoliberalen Spektrum kommen. Der Ende April von Bundeskanzler Gerhard Schröder programmatisch vorgetragenen These, dass ein Gesundheitssystem ohne Eigenbeteiligung heute nicht mehr vorstellbar sei, lediglich entgegenzusetzen, diese Eigenbeteiligung werde ohnedies durch den Krankenversicherungsbeitrag und erhebliche Zuzahlungen geleistet, setzt politisch zu kurz an. Schröders Position dürfte im Kreis der SPD-Sozialpolitiker (noch) nicht konsensfähig sein, doch ihr hat in der Partei auch niemand scharf widersprochen. Derzeit bemüht sich die Parteiführung, ihren Abschied von der Idee der Verteilungsgerechtigkeit ideologisch zu unterfüttern.

In der Gesundheitspolitik hat die neoliberale Vorstellung vom Spiel, in dem alle Gewinner sind, einen mittel- und langfristigen Paradigmenwechsel zur Folge. Die künftig in das System eingebauten Wettbewerbselemente und die von Gesetz zu Gesetz weitergetriebene marktförmige Zurichtung zerrüttet die Grundlage der Gesetzlichen Krankenversicherung als Solidargemeinschaft. Die Gesundheit des Versichertenkollektivs soll jetzt nicht mehr dadurch gewährleistet werden, dass alle die Krankenversorgung erhalten, die sie benötigen, sondern dass jeder und jede Einzelne sich auf dem Gesundheitsmarkt mit den günstigsten Angeboten versorgt.

Die Wahl der Krankenkasse, die das bessere Angebot, den schnelleren Service und die niedrigeren Beitragssätze bereit hält, ist ein wichtiger, aber kleiner Schritt. Die Wahl der Klinik, die einen chirurgischen Eingriff mit minimal-invasiven Methoden bei kürzester Liegezeit durchführt und damit dazu beiträgt, die Arbeitskraft schnellstmöglich wiederherzustellen, zielt in dieselbe Richtung. Der Vorstoß der Arbeitgeber, nur noch den günstigsten Krankenkassenbeitrag für ihre Beschäftigten zahlen wollen, verdeutlicht, dass die Zunahme der Wahlmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten nicht unbedingt mehr Selbstbestimmung - was immer das unter den gegebenen Umständen auch sein könnte - mit sich bringt.

Der Kampf um den Patienten als "Kunden", den sich derzeit die Krankenhäuser liefern, ist ein treffender Ausdruck dieser Entwicklung. In der Realität sind die Wahlmöglichkeiten der Kunden durch das vorgegebene Angebot und ihre Zahlungsfähigkeit erheblich beschränkt. Wie der Kunde einkauft, ob er gute Ware auswählt oder gar nicht die entsprechende Kompetenz hat, die von ihm erwarteten Entscheidungen qualifiziert zu treffen, ist dem Markt egal. Das Konzept eines gleichberechtigten Behandlungsvertrags zwischen Arzt und Patient, der letzteren als mündigen Bürger oder Bürgerinnen ernst nehmen und eine qualitativ gute Behandlung sichern könnte, bleibt angesichts des ökonomischen Diktats allenfalls eine gut gemeinte Absichtserklärung. Tatsächlich ändert sich unter dem steigenden Kostendruck der Maßstab für das, was als sorgfältige und gute Behandlung zu gelten hat. Die vielfältigen Behandlungsrichtlinien, mit denen derzeit die Ärzteschaft versorgt wird, sollen der Qualitätssicherung dienen; sie setzen jedoch gleichzeitig auch Standards, die nach ökonomischen Erfordernissen, ohne dass die Patienten in der Lage wären, dies zu beurteilen, herabgesetzt werden können.

Dass es auch anders geht, zeigt eine Auseinandersetzung, die ebenfalls unter Federführung des Gesundheitsministeriums - aber unter ganz anderem Vorzeichen - stattfindet: In der Kontroverse um die Präimplantationsdiagnostik und Methoden der künstlichen Befruchtung spielen Kosten keine nennenswerte Rolle, obwohl die neuen reproduktionsmedizinischen Verfahren, die eine Selektion von Embryonen nach genetischer Ausstattung ermöglichen, äußerst kostenträchtig sind. Diese Verfahren werden ebenso wie die gentherapeutischen Versuche oder die genetische Diagnostik um jeden Preis vorangetrieben, weil ihr erhofftes Ergebnis - die Möglichkeit, die Geburt von Menschen mit Behinderungen zu verhindern - politisch erwünscht ist.

Die gegenwärtige Debatte hat zwar die ökonomische Leistungsfähigkeit des Krankenversorgungssystems als Ausgangspunkt. Politisch geht es jedoch um sehr viel mehr. Die Botschaft, mit der die große Koalition der Gesundheitspolitiker ins 21. Jahrhundert geht, ist, dass sich auch Krankenversorgung für die Gesellschaft lohnen muss: Sei es, dass die Qualität im Menschenpark hochgesetzt werden kann, sei es, dass der Gesundheitsmarkt, der viele Menschen in Lohn und Brot hält und einigen Berufsgruppen und der Pharmaindustrie solide Gewinne sichert, erhalten und lukrativ ausgebaut werden soll. Die Gelder, die auf diesen Markt fließen, sollen deswegen weniger aus gesellschaftlichen Quellen, solidarisch, gespeist werden, sondern gefragt sind die "intelligenten Selbstoptimierer", so der Gesundheitsökonom Hagen Kühn. In einer sich parzellierenden Gesellschaft hat ein solidarisches Gesundheitssystem, das, horribile dictu, auch ein Instrument von Umverteilung ist, keine rosige Zukunft.

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