Die Luft Lissabons ist milder als in anderen europäischen Metropolen, das Leben nicht so teuer und die Menschen freundlicher. Sie gehen auch anders – langsamer, entspannter. Sobald man das von Touristen und Haschischverkäufern in Beschlag genommene Zentrum verlässt, ist die Stadt wunderbar altmodisch. Wie in Wien haben die Straßenbahnen und Cafés ihren ursprünglichen Charakter bewahrt, dem auch die Galerien und Pop-up-Clubs nichts anhaben können, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Der Rhythmus des Lebens und die Wehmut, die Art, wie der Tejo sich undeutlich im Meer widerspiegelt: In Lissabon stößt Europa auf Afrika und Südamerika. Die Wellen des offenen Meeres, die das Muster der gepflasterten Bürgersteige prägen, reichen bis nach Rio de Janeiro.
Portugal ist den Zuckungen des alten Kontinents entkommen. Merkwürdigerweise ist man hier frei von der Wut, die andernorts herrscht, obwohl das Land in den vergangenen Jahren stärker unter der Wirtschaftskrise und mehreren politischen Finanzskandalen zu leiden hatte als die meisten anderen europäischen Staaten. Bis 2014 dem Spardiktat der Troika unterworfen, werden die Portugiesen nun von einer von der KP und dem Linksblock tolerierten sozialistischen Minderheitsregierung unter Premierminister António Costa geführt, die das Land erfolgreich verwaltet.
Die Sozialisten rückten von der rigiden Austeritätspolitik ab, ergriffen ein paar soziale Maßnahmen, sorgten mit Investitionen für eine leichte Belebung der Wirtschaft und haben es bislang immer geschafft, alle fälligen Schulden zu tilgen – auch wenn die Regierung nach wie vor ein Haushaltsdefizit aufweist. Portugal ist die Gangrän erspart geblieben, dieser trockene Brand der Zehen, der den Großteil des europäischen Kontinents befallen hat: der Rechtspopulismus. Bei den letzten Parlamentswahlen erhielt die Partei der nationalen Erneuerung, die mit der Forderung „Portugal den Portugiesen“ antrat, weniger als 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Pässe für Überseeportugiesen
Ich beginne meine Suche nach den Gründen mit einem Besuch bei Pedro Magalhães, einem der bekanntesten Politologen des Landes. „Die Populisten haben im Westen Erfolg, weil immer mehr Leute sich wirtschaftlich und kulturell bedroht fühlen. In Portugal ist die Gesellschaft noch homogen. Die Einwanderer kommen im Wesentlichen aus portugiesischsprachigen Ländern – aus Brasilien und den ehemaligen afrikanischen Kolonien. Sie können sich leicht integrieren. Die Muslime aus Mosambik sind nicht fundamentalistisch und die Migranten aus Nordafrika machen einen Bogen um Portugal“, erklärt Magalhães. Der Arbeitsmarkt, der flexibel und äußerst unflexibel zugleich ist, fungiere wie eine Mauer. „Die jungen Leute passen sich an die prekären Lebensverhältnisse an oder sie verlassen das Land – leider; die Älteren und schlechter Qualifizierten, die sich am ehesten zum Populismus hingezogen fühlen könnten, zeigen sich gegen seine Verlockungen gefeit: Seine kulturellen und wirtschaftlichen Triebfedern sind hier noch nicht in dem Maße vorhanden wie anderswo in Europa.“
Rui Tavares, der schon viele Jahre lang für die Fraktion der Europäischen Grünen im EU-Parlament sitzt und für die Tageszeitung Público schreibt, freut sich sehr darüber, dass keine Partei versucht, Kapital aus den Schwierigkeiten des Landes zu schlagen. „Die Linke und die Rechte tragen gleichermaßen Verantwortung. Die kommunistische Partei ist die älteste politische Kraft des Landes und der Linksblock, der Ende der 1990er gegründet wurde, um für die Sache des Feminismus einzutreten, ist von den politischen Auseinandersetzungen ebenfalls nicht unberührt geblieben. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wird von diesen beiden etablierten Parteien kanalisiert“, so Tavares.
Viele Portugiesinnen und Portugiesen können sich noch gut an das autoritäre Regime Salazars erinnern, das erst 1974 gestürzt wurde. „Das hat uns für lange Zeit immun gemacht“, erläutert mir der 93-jährige Professor Eduardo Lourenço in seinem Büro der Stiftung Gulbenkian. Der Estado Novo, der nur wenige Jahre nach der Machtergreifung Mussolinis in Italien ausgerufen wurde, stellte im Europa der 1960er Jahre eine Anomalie dar, „ein innenpolitisches Seminar“ (un séminaire domestiqué), schrieb Antonio Lobo Antunes in seinem Roman Elefantengedächtnis. „Voll Stolz allein“, war das Motto des korporatistisch-nationalistischen Regimes, dessen Geheimpolizei Oppositionelle bedrohte, zusammenschlug und Bücher zensierte.
Im Jardim das Amoreiras treffe ich Irene Pimentel, eine Historikerin, die sich mit dem Salazarismus beschäftigt. „Er bezog seine Legitimation aus dem Kolonialreich, innerhalb dessen Angola aufgrund seiner Öl- und Diamantenvorkommen das Vorzeigestück darstellte“, erklärt sie mir. Während sich die (anderen) europäischen Mächte in der Nachkriegszeit aus ihren Kolonien zurückzogen, investierte Portugal massiv in Mosambik, Guinea-Bissau und Angola. „Zehntausende von Siedlern wurden entsandt. Von 1951 an sprach man nicht mehr von ,Kolonien‘, sondern nur noch von ,Überseeprovinzen‘ und zehn Jahre später fasste Salazar den Entschluss, allen ,Indigenen‘ die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Die Propaganda feierte danach den ,Luso-Tropikalismus‘ einer multikontinentalen Nation“, so Pimentel.
Ich hege zwar keinerlei imperiale Nostalgie, aber die Abenteuer Portugals in Übersee finde ich interessant. Während ich vor dem Padrão dos Descobrimentos (dem Denkmal der Entdeckungen) im Lissabonner Stadtteil Belém sitze, das Salazar 1940 errichten ließ, frage ich mich, wie ein Land mit einer Million Einwohnern im 15. Jahrhundert losziehen konnte, um die Weltmeere zu erobern. Angeführt von Heinrich dem Seefahrer, dem Wegbereiter der Epoche, entstand das erste Weltreich der modernen Geschichte. Als es seine Einheit vollendet hat, macht Portugal sich auf, die Welt zu erobern. Das Königreich will Venedig als Zentrum des Gewürzhandels ablösen und gegen die Araber und Osmanen ins Feld ziehen.
Plündern und Massakrieren
Unter Umfahrung Afrikas sollen neue Handelswege nach Indien erschlossen werden. Vasco da Gama kommt 1498 dort an, gegen Ende eines Jahrhunderts, in dem die Portugiesen sich Hormus, Goa, Malakka, die Molukken, die Inseln der Nelken und der Muskatnuss und Macao aneigneten und die Japaner zwangen, sich dem Handel und der Evangelisierung zu öffnen. Brasilien wird 1500 durch Zufall entdeckt. Die Portugiesen plündern, massakrieren und verschleppen schwarze Sklaven aus Guinea und Angola nach Brasilien, um dort Zuckerrohr anzubauen.
Dann zerfällt das Reich, die Niederländer und die Briten verjagen die Portugiesen aus dem Indischen Ozean und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird Brasilien unabhängig. Portugal löst sich niemals völlig von diesem legendären Morgenland und hält bis 1975 an seinen afrikanischen Besitzungen fest. „Die Kolonialkriege, die in Angola begannen, haben das Salazar-Regime zu Fall gebracht. Die Nelkenrevolution gor unter den jungen Offizieren, die nicht in Afrika kämpfen wollten“, sagt Pimentel. Eine halbe Million retornados (Rückkehrer) stürzten die Hauptstadt ins Chaos. Ihre Integration stellte für die junge Demokratie eine große Herausforderung dar.
In Frankreich gehörten die zahlreichen Algerien-Rückkehrer in den 1980er Jahren zu den ersten Unterstützern des Front National. Nicht so in Portugal. „Die Rückkehrer sind nie den Sirenen der Nostalgie erlegen. Nach vierzig Jahren schürt keine Seite Groll: Der Nationalismus, der mit Salazar und den Kolonialkriegen assoziiert wird, gilt nach wie vor als inakzeptabel“, sagt Luís Urbano, der die Filme Tabu – eine Geschichte von Liebe und Schuld (2012) und Cartas de Guerra (2016) produziert hat, zwei Filme über die letzten Jahre der afrikanischen Kolonien. Die Rückkehrer fanden ein sehr armes und provinzielles Land vor, das aber begierig auf Neuerungen war und das bei null anfing, so wie sie selbst. In Mosambik und Angola hatten sie Rockmusik gehört und die Frauen trugen Miniröcke – Dinge, die unter Salazar verboten waren. Sie hatten Handel mit Südafrika und den angelsächsischen Ländern getrieben. Die weltgewandteren Rückkehrer fanden ihren Platz in einer Gesellschaft, die einen neuen Horizont unter der Führung des Sozialisten Mário Soares suchte, „Europa, wo Portugal nach fünf Jahrhunderten voller Abenteuer in Übersee keine herausragende Rolle mehr spielt.“
Dieses Mal geht die Veränderung sehr schnell vonstatten: Nach seinem Beitritt im Jahr 1986 wird Portugal zum europäischen Musterschüler und beteiligt sich an der Schaffung des Euro-Raumes. Die Gemeinschaftsfonds helfen dem Land, seine Wirtschaft und Infrastruktur zu modernisieren und demokratische Routinen zu entwickeln.
Lockruf des Meeres
Am Tag vor meiner Abreise treffe ich Joana Cardoso, Vorsitzende der Organisation, die die historischen Monumente Lissabons verwaltet. Wir unterhalten uns über Europa und Frankreich. „Ihr seid in Paris ziemlich egozentrisch und pessimistisch, wenn ihr glaubt, alle Europäer seien so wie ihr. Selbst auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise sind wir hier immer proeuropäisch geblieben. Vor allem die ganz Jungen sind der europäischen Idee trotz allem sehr verbunden“, sagt sie.
Als die Arbeitslosigkeit sich vor ein paar Jahren auf dem Höhepunkt befand, ist ein Teil der Jugend Lockrufen des Meeres erlegen: Die lusophone Versuchung der Tropen scheint bei den „Kindern des Ozeans“ wie ein Reflex. 2012 haben mehr als 120.000 junge, gut ausgebildete Portugiesinnen und Portugiesen das Land verlassen. Manche sind nach Mosambik oder nach Brasilien gegangen, viele nach Angola. Damals boomte der Ölmarkt noch. Zu diesen jungen Arbeitsemigrantinnen gehörte auch Paula. Sie erzählt: „Als mein Chef mir den Lohn kürzen wollte, habe ich sein Angebot abgelehnt und bin 2013 nach Luanda gegangen, wo man mir das Drei- bis Vierfache angeboten hat.“ Sie musste aber ernüchtert feststellen, dass Luanda eine gefährliche und äußerst harte Stadt ist. Das Verhältnis zu den Angolanern war angespannt, wobei die Lohnunterschiede eine wichtige Rolle spielten. Ihr Traum ist nicht in Erfüllung gegangen; was bleibt, ist der schwer überschreitbare europäische Horizont.
Portugal erscheint wie ein europäisches Wunder. Seit dem 19. Jahrhundert gab es keinen Bürgerkrieg mehr; der Salazarismus war harmlos, zumindest wenn man ihn mit dem Franquismus und Faschismus vergleicht; die Nelkenrevolution forderte lediglich vier Tote. „Wie schafft es dieses Land, das die Melancholie zum nationalen Mythos erhoben hat, dem Gesang der Sirenen des Nationalismus zu widerstehen?“, fragt sich der Produzent Luís Urbano. Ein fremdes Land, das seine Niederlagen in Ehren hält (außer im Fußball) und die Nostalgie pflegt – ob den Verlust seines Weltreiches, die Niederlage des jungen Königs Sebastian 1578 in Marokko, auf dessen Rückkehr bis zum heutigen Tage gewartet wird, oder das Andenken des unglücklichen Fernando Pessoa, der an einer Leberzirrhose starb. „Wir pflegen Ohnmachtsfantasien und eine Größe, die nicht von dieser Welt ist“, kommentiert Professor Lourenço selbstironisch.
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