Polnisches Schisma

Erinnern Das neue Gdansker Museum des Zweiten Weltkriegs passt der PiS-Regierung nicht
Ausgabe 12/2017
Den polnischen Regierenden nicht national genug: Danzigs Weltkriegsmuseum
Den polnischen Regierenden nicht national genug: Danzigs Weltkriegsmuseum

Foto: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Lastwagen und Bagger unter einem betonfarbenen Himmel. Ein vielfarbiges Ballett von Helmen tanzt um das neu errichtete, spektakuläre Gebäude. Das anspruchsvollste Museum, das je dem Zweiten Weltkrieg gewidmet wurde, soll hier an der Weichselmündung entstehen: 5.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, ein moderner, verspiegelter Bau, der sich imposant in den Himmel erhebt – und zugleich sechs Stochwerke hinab in die Erde reicht, wo sich zwei Panzer gegenüberstehen. Gdansk, Danzig, ist der Ort, an dem der Zweite Weltkrieg ausbrach.

Die internationale Fachwelt blickt voller Erwartung auf das große Museumsprojekt. Es ist ein Symbol für den polnischen Aufbruch, der gleichfalls mit Danzig verbunden ist. In der Hochburg der Solidarność nahmen in den 1980er Jahren die demokratischen Revolutionen Mitteleuropas ihren Anfang. Adam Michnik, Dissident und Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, beschrieb die Erfolgsgeschichte so: eine stabile Demokratie, ein immer normaleres Land mit einer umsichtigen Außenpolitik. Michnik sprach 2015, als ich ihn in Warschau traf, gar von „Wunder“ – und warnte: ein „ungarisches Szenario“ ist möglich. Immer noch.

Zwei Jahre später ist das ungarische Szenario Wirklichkeit geworden. Die PiS-Regierung, eine Verbündete des autoritären Ungarn von Viktor Orbán, tritt den Rechtsstaat mit Füßen: Reform des Verfassungsgerichts, Eingriffe in die Pressefreiheit, ein Gesetz, das den Geheimdiensten gestattet, die Kommunikation zwischen Bürgern ohne Genehmigung eines Richters zu überwachen. Und die PiS-Regierung will auch das Museum des Zweiten Weltkriegs nicht so haben, wie es geplant war. Sie versucht immer wieder, das 100-Millionen-Euro-Projekt zu torpedieren. „Das Museum des Zweiten Weltkiegs schreibt unsere Erfahrung in den europäischen und internationalen Kontext“, sagt Museumsdirektor Paweł Machcewicz. Polens starker Mann hingegen, Jarosław Kaczyński, nennt das Museum ein „Organ zur Desintegration des polnischen Volkes“.

Um den Kampf um das Museum zu verstehen, muss man Polens jüngste Geschichte betrachten.

Der Manitu der PiS

Michał Seweryński, 77 Jahre, Blazer und gediegene Krawatte, ist ein unabhängiger, der PiS nahestehender Senator. „Wir verteidigen den Patriotismus, die Traditionen, die Pflege der polnischen Geschichte“, sagt Seweryński. Er war Bildungsminister der ersten Regierung der PiS, die von 2005 bis 2007 an der Spitze Polens stand. Er war ein Freund von Präsident Lech Kaczyński, der 2010 beim Absturz seines Flugzeugs in der Nähe der russischen Stadt Smolensk starb. Er wollte dort am Gedenken zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn teilnehmen, bei dem Stalin tausende polnische Offiziere hatte ermorden lassen. Im führerlosen Polen blieb danach nur noch ein Zwillingsbruder Kaczyński übrig, Jarosław, der große Manitu der PiS.

Jarosław Kaczyński ist Junggeselle, lebte bei seiner Mutter bis zu deren Tod und ist nie im Ausland gewesen. Er hat heute lediglich ein Abgeordnetenmandat, lenkt das Land aber hinter den Kulissen. „Alle wichtigen Entscheidungen werden mit ihm getroffen“, bestätigt Seweryński. Jarosław Kaczyński wurde nach dem Krieg in eine Familie geboren, die Widerstand gegen die Deutschen und die Sowjets leistete. Er nahm an den Studentendemonstrationen 1968 teil, trat acht Jahre danach dem KOR, dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, bei dessen Gründung bei und wurde später Mitglied der Solidarność. Er nahm an den Verhandlungen am Runden Tisch teil, die 1989 den gewaltlosen Übergang des kommunistischen Polens zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie sicherstellten. Jarosław gehörte wie sein Bruder Lech nie zur ersten Reihe der Solidarność. Es fehlte ihnen an Profil, am Glamour und dem romantischen Nimbus, der die großen Dissidenten der Epoche umgab.

1991 rückten sie von Wałęsa ab und traten der konservativen Rechten bei, zehn Jahre später gründeten sie die PiS. Die Partei versammelt die Enttäuschten des neuen Polen, diejenigen, denen es an Mitteln für den Besuch der neuen Einkaufszentren fehlt, und „die aufgebracht sind, dass die ehemaligen Kommunisten das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben kontrollieren“. Für die Kaczyńskis und für Jarosław im Besonderen haben die alten Kameraden von der Solidarność die Revolution verraten – und zwar, weil sie die Strafverfolgung der Apparatschiks des alten Regimes abgelehnt haben.

2005 entwendete der Journalist Bronisław Wildstein Listen ehemaliger Mitarbeiter der kommunistischen Geheimpolizei aus den Archiven des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau und gab sie an Hunderte seiner Kollegen weiter. „Es ging darum, die Archive zu schließen. Ich fand diesen Gedanken skandalös. Ich habe die Dateien weitergegeben, um die unverzichtbare Diskussion über unsere sozialistische Vergangenheit auszulösen und für Pluralismus zu sorgen“, sagt mir Wildstein. Ihre Veröffentlichung sorgte für Empörung (die Listen enthalten Namen von Mitarbeitern und Opfern; Opfer konnten zur zeitweiligen Mitarbeit gezwungen werden) und trug zum ersten Wahlsieg der PiS Monate später bei.

Polen ist noch Gefangener seines 20. Jahrhunderts – und der Unterdrückung durch Kommunisten

Foto: Zuma Press/Imago

Wildstein, ehemaliges Mitglieder des KOR und der Solidarność, hat gleich zu Beginn des Übergangsprozesses ebenfalls mit seinen früheren Kameraden gebrochen. „Sie haben es abgelehnt, einen neuen Staat zu schaffen und die sozialen Strukturen des Landes zu ändern. Das war nicht die Demokratie, von der wir geträumt hatten, sondern eine Aufteilung der Ressourcen zwischen einigen ,moralischen Autoritäten‘ und ehemaligen Kommunisten. Aus diesem Bündnis ist die Oligarchie entstanden, die Polen im letzten Vierteljahrhundert regiert hat“, sagt Wildstein.

Während ihrer ersten Amtszeit ließen die Kaczyńskis ein Lustrationsgesetz verabschieden, ein Gesetz zur Reinigung der Kader. Doch das Verfassungsgericht annullierte das Gesetz. Jarosław Kaczyński hat das nie vergessen: Sobald die PiS wieder an der Macht war, schoss sie ihre erste Salve konfiskatorischer Maßnahmen gegen das Gericht ab. Zehn, fünfundzwanzig, fünfunddreißig Jahre später dauert die Abrechnung zwischen ehemaligen Weggefährten des KOR und der Solidarność an.

Aktivist der Solidarność

Am frühen Morgen des 29. November 2016 verhaftet die Polizei Józef Pinior an seinem Wohnsitz in Breslau. Der legendäre Aktivist der Solidarność und ehemalige europäische Abgeordnete Pinior wird der Korruption beschuldigt. Zwei Tage später wird er wieder freigelassen. Am 10. Dezember treffe ich Pinior, 61 Jahre alt, in Breslau am Rande einer Versammlung des KOD, des Komitees zur Verteidigung der Demokratie, der größten Bürgerbewegung seit der Solidarność, die Hunderte von Demonstrationsmärschen gegen die PIS seit deren Rückkehr an die Macht organisiert hat. „Die polnischen Nationalisten verhalten sich wie Stalin gegenüber Trotzki und großen Revolutionären von 1917 nach dem Tod von Lenin. Sie wollen uns aus dem Weg schaffen, indem sie jede Form politischer Opposition kriminalisieren. Meine Verhaftung ist die erste Etappe in diesem Prozess“, erklärt Pinior.

Vernichtet werden soll natürlich Wałęsa. Im November 2015 versuchte die Witwe von Czesław Kiszczak, ehemaliger Chef der kommunistischen politischen Polizei, dem Institut für Nationales Gedenken Dokumente zu verkaufen, die ihr verstorbener Mann illegal aus den Archiven mitgenommen hatte. In ihnen wird ein gewisser Bolek beschuldigt, Mitarbeiter der Geheimpolizei zwischen 1970 und 1976, ein Pseudonym, hinter dem sich Wałęsa verstecken soll. Für Aleksandra Rybińska, eine konservative Journalistin, steht seine Schuld außer Frage. „Die kommunistischen Dienste wussten, dass das Regime vor dem Ende stand. Wałęsa war ihre Marionnette. Sie haben seine Karriere unterstützt, weil sie ihn in der Hand hatten: Er hat Geld für seine loyalen Dienste während der 1970er Jahre bekommen. Die alten Kommunisten haben sich den Kuchen der Privatisierungen geteilt, während die wirklichen Antikommunisten ausgegrenzt wurden“, sagt Rybińska, 40 Jahre alt. Wałęsa hat jegliche aktive Mitarbeit abgestritten. 2011 räumte das Institut für Nationales Gedenken ein, dass die kommunistischen Dienste Dokumente gefälscht hatten, um Wałęsa zu kompromittieren. „Michnik verteidigt ihn allen Widerständen zum Trotz“, sagt Rybińska.

Putinisierung Polens

Maciej Stasiński, ebenfalls Redakteur der Gazeta Wyborcza, sagt: „Kaczyński hatte gegenüber den führenden Dissidenten immer Minderwertigkeitskomplexe. Dieser Mann ist ein krankhafter Paranoiker. Er ist dabei, das Wunder des Wandels kaputtzumachen. Die letzten 25 Jahre sind die besten Polens seit mindestens drei Jahrhunderten gewesen. Wir wurden eine zivilisierte Demokratie, in der die Freiheiten des Einzelnen garantiert waren. Die PiS hat den Rechtsstaat durch die Kolonisierung des öffentlichen und privaten Bereichs systematisch zerstört. Die Hexenjagd auf die Kommunisten ist nur ein Vorwand.“ Stasiński beklagt die Putinisierung Polens. „Wir bewegen uns auf einen autoritären Staat zu, der am Ende aus der EU austreten wird.“

Ende November entließ KulturministerPiotr Gliński die anerkannte, liberale Leiterin des polnischen Kulturinstituts in Berlin – was zu massiven Protesten führte. Gliński möchte mit der „Kultur der Scham“ aufräumen, die Polen mit der Shoah und dem Antisemitismus assoziiert. Und Senator Seweryński drückt es so aus: Es gehe darum, dass „glorreiche Ereignisse“ wieder zu Ehren kommen, „der heroische Angriff von Marschall Piłsudski gegen die Sowjets 1920, durch den Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangte, der patriotische Widerstand gegen die deutschen und russischen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs und die verdammten Soldaten, die bis zum Beginn der 1950er Jahre gegen die Kommunisten kämpften“.

Polen ist in zwei Lager gespalten, die sich gegenseitig verachten. Das Land ist Gefangener seines furchtbaren zwanzigsten Jahrhunderts, seiner Toten, seiner dem Erdboden gleichgemachten Städte, seiner vernichteten Juden, der vierzigjährigen kommunistischen Unterdrückung. Polen war und fühlte sich immer eingezwängt zwischen dem gefräßigen Deutschland im Westen, dem es stets misstrauen wird, und dem riesigen Russland im Osten, das neue Raketen in der Exklave Kaliningrad stationiert. Das Polen von heute, erschüttert von der Globalisierung, enttäuscht von einem zusammenbrechenden Europa und beunruhigt über die Regierungsübernahme von Trump, der mit Putin paktieren will, schaut besorgt in die Zukunft.

Das Schicksal des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig hängt vom guten Willen des Kulturministers ab. Gliński hält es für wenig aussagekräftig im Hinblick auf die Opfer Polens. Er möchte es mit einem anderen, noch imaginären Museum zusammenlegen, das dem Kampf um die Westerplatte gewidmet ist. So ließe sich das Konzept des Erinnerns mehr auf den heldenhaften Widerstand polnischer Soldaten fokussieren, die im September 1939 eine Woche lang dem Überraschungsangriff der Deutschen standhielten. Es sieht aus wie eine Geste, ist aber eine Grundsatzentscheidung. Wie andernorts in Europa: von der Makro- zur Mikroebene, vom kontinentalen Abenteuer zum Rückzug auf sich selbst. Heute eröffnet das Museum.

Olivier Guez ist Autor und gewann mit Der Staat gegen Fritz Bauer den Deutschen Filmpreis

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