Der Sündenbock in uns

Achronie aktuell Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für die Lektüre eines der wichtigsten Werke Christa Wolfs: Medea. Stimmen. Denn hören wir ihnen zu, sehen wir in uns selbst hinein.

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„MERKEL MUSS WEG! ­­­­­– FREIMAUREREI MUSS WEG! – ILLUMINATENUM MUSS WEG! –PHARMA ENTMACHTEN! – DIE BRD MUSS WEG!“

Dies ist ein Auszug des „politischen Programms“ von Attila Hildmann, mit welchem er nach eigener Aussage „Deutschland aus der Krise bringen“ könne. Weiter heißt es in einer Nachricht seines öffentlich zugänglichen Telegram-Kanals: „Die Korona-Diktatur muss sofort beendet werden!!! […] Aber nicht das chinesische Killervirus ist daran schuld, sondern FDJ-Merkel & ihre Bundesregierung + Schergen“

Doch warum sollten uns die hetzerischen Aussagen eines offensichtlich rechtsradikalen Kochbuchautors interessieren? Könnten wir ihn nicht als Spinner abtun und so lange trampeln lassen, bis ihm keiner mehr zuhört? Wir leben doch in einer so aufgeklärten, rationalen und reflektiert-postmodernen Gesellschaft. Wir haben doch aus der Vergangenheit gelernt, kennen psychologische Muster, soziologische Modelle und verhalten uns wie zivilisierte Bürger.

Oder?

Wenn die besagte Telegram-Gruppe mehr als 100.000 aktive Mitglieder besitzt und zudem rund
75 Millionen Bürger der weltweit ältesten Demokratie einen Präsidenten wiederwählen wollten, der so gut wie jedem Menschen außer sich die Schuld für sein präsidiales Versagen in die Schuhe schob, kann ich der Vorstellung von einer vernunftgeleiteten Welt eigentlich keinen Glauben mehr schenken.

Die Gemeinsamkeit beider Klientelen liegt darin, dass sie stets in anderen Menschen einen Schuldigen für Probleme und Krisen suchen. In der Corona-Pandemie kommen sie allerdings nicht so leicht weiter. Bei einem zufälligen Naturereignis gibt es nämlich faktisch keinen Schuldigen. Und da man schlecht auf eine chinesische Fledermaus wütend sein kann, wird nun krampfhaft nach einem Subjekt gesucht, welches man dafür bestrafen kann.

Dieses immerzu wiederkehrende Phänomen wird nach René Girard Sündenbock­mechanismus genannt. Wenn eine Gemeinschaft durch innere Rivalität, eine äußere Katastrophe oder eine imaginäre Gefahr existenziell bedroht ist, suchen sich die Menschen, um nicht in gegenseitigen Gewaltexzessen auszuarten, ein unschuldiges Opfer, an dem die eigene Frustration und Aggression ausgelassen werden kann. So wird die Ordnung ­– scheinbar – wiederhergestellt. Dazu gibt es unzählige historische Beispiele: die Hexenverfolgung im Mittelalter, die Lynchmorde in den Südstaaten der USA oder die Judenverfolgung im Nationalsozialismus, um nur ein paar grausame Taten zu nennen. Girard geht in seiner Theorie noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die Sündenböcke danach vergöttlicht werden, da sie der Gewaltkrise ein Ende bereitet haben. Daraufhin würden Mythen erfunden, um diese Gewalt zu verschleiern und die Gemeinschaft daran zu erinnern, dass sie durch den Sündenbock von dem „Bösen“ erlöst seien. Dabei muss ich sofort an das Ende von Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen denken. Die Wut des korinthischen Volkes ist auf ihrem Höhepunkt und entlädt sich in der Vernichtung der fremden Heilerin Medea. Sie kann allerdings aus der Stadt fliehen, wohingegen ihre Kinder von der Masse ermordet werden. Von diesem Moment an soll alle sieben Jahre der toten Kinder im Heratempel gehuldigt werden – ein Mythos vom göttlich verschleierten Gewaltakt war geboren. Hierbei ist es essentiell, anzumerken, dass Wolfs Medea völlig unschuldig ist. Die Korinther sind es, die ihr allerlei Taten anhängen, teils basierend auf Gerüchte, teils wegen wirrer Spekulationen: Medea habe ihren Bruder umgebracht, Medea hätte das Erdbeben verursacht, Medea sei für die Pest verantwortlich, Medea hätte zur Kastrierung Turons aufgerufen, Medea sei eine Staatsfeindin. Natürlich werden diese erfundenen Anschuldigungen von den Mächtigen in Korinth, beziehungsweise von denen, die noch mächtig werden wollen, in die Welt gesetzt. Aber es ist der fruchtbare Boden des Volkes, auf dem diese Gerüchte gedeihen und zur virulenten Wirklichkeit werden, unwissend darüber, dass die wirklichste aller Gräueltaten in den tiefen Kellergängen des prunkvollen Palastes verborgen liegt.

Jedoch, könnte man jetzt einwenden, liegen zwischen uns und dem Geschehen des Romans mehr als 2.500 Jahre. Damals waren die Menschen eben so: brutal, barbarisch, beschränkt. Nun, hat sich unsere Gesellschaft wirklich zum Guten verändert? War nicht einem amerikanischen Präsidenten Trump jedes Mittel recht, seine Macht zu erhalten, wie der ebenso frauenfeindliche und skrupellose Kreon? Ist nicht ein Attila Hildmann, der sich eine Krise für die eigene Aufmerksamkeit zunutze macht, wie der opportunistische Presbon? Und gleichen nicht die Millionen an Menschen, die diesen und anderen Populisten blindlings anhängen, den oberflächlichen Bürgern Korinths? Die Fassade der gegenwärtigen Gesellschaft mag mit ihrer selbstgefälligen Aufgeklärtheit glänzen, doch tief im Inneren schlummern die gleichen, leider immer noch nicht überwundenen, selbstdestruktiven Verhaltensmuster.

Das ist es, worauf Christa Wolf mit ihrer Medea aufmerksam machen möchte. Indem wir die Figuren vergangener Epochen durch die Wände der Zeiten hören können, merken wir, dass wir ihnen ähnlicher sind, als wir bisher gedacht hätten.

Treffend formuliert es Girard, wenn er eine soziale Krise mit einer Plage vergleicht, einem „universellen Prozess von Entdifferenzierung“. Wir befinden uns ebenfalls in einer sozialen Krise, ausgelöst von einem Virus, und es wird mehr entdifferenziert denn je. China wird für eine zufällige Virusinfektion öffentlich als Sündenbock kompromittiert – es wird von dem „chinesischen Killervirus“ oder der „chinesischen Plage“ gesprochen. Hierbei lassen sich wieder historische Parallelen erkennen, als beispielsweise unmittelbar nach dem Beginn der HIV-
Epidemie die Homosexuellen allein für den Ausbruch verantwortlich gemacht wurden
(„THE MAN WHO GAVE US AIDS“ titelte die New York Post 1987).

Kurioserweise gibt es derzeit unzählige weitere Sündenböcke, neben Regierungen und geheimen Eliten auch die „profitorientierte Pharmaindustrie“, scheinbar angeführt von Bill Gates. Wie die Heilerin Medea für die Pest verantwortlich gemacht wurde, werden ­­– so paradox es ist – auch in der gegenwärtigen Pandemie insbesondere die Menschen, die einen Ausweg bereithalten, als Auslöser verleumdet. So wird die Verkennung der Wahrheit zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Je mehr Menschen ihre Verantwortung für das eigene Handeln auf einen Sündenbock abwälzen und sich nicht an einfache Hygieneregeln halten, desto verschärfter wird die Lage und die Pandemie findet kein Ende, woraufhin die Regierung strengere Maßnahmen einleiten muss und die gleichen Menschen wieder an den Anfang zurückkehren, um in der Regierung den Sündenbock sehen.

Das ist das geschlossene System der Selbstverkennung, von dem Christa Wolf im Vorwort ihres Romans spricht. Es ist die Selbstüberhebung, zu denken, man wisse, wie die Welt funktioniert und alle anderen wüssten es nicht. Die Welt ist nun einmal sehr schnell sehr komplex geworden, es gibt längst keine einfachen und bequemen Antworten mehr – ebenso, wie es DEN einen Sündenbock nicht mehr gibt. Genau wie in Korinth löst die Kollektivschuld den Einzeltäter ab. Diese Erkenntnis kommt allerdings nur, wenn man das tut, was Christa Wolf mit ihrer Medea-Bearbeitung gemacht hat: in die Tiefe gehen, sich selbst hinterfragen – das kann einem niemand abnehmen.
Demagogen wie Trump oder Hildmann wird es immer wieder geben, doch es liegt an uns selbst, ob wir sie durch Resonanz stärken oder durch Abwendung verkümmern lassen.

Jedoch möchte ich nicht ausschließlich Maßnahmenverweigerer und Corona-Leugner verantwortlich machen – dann würde ich selbst in die Sündenbockfalle tappen. Wie auch die Ursache der zerstrittenen korinthischen Gesellschaft viel früher vor der Ankunft Medeas liegt, so liegt auch unser aktuelles Problem weit vor der chinesischen Fledermaus.

Anstatt zu fragen „Wer?“, sollten wir fragen „Warum?“. Liegt der Ausbruch vielleicht an einer grundsätzlichen Fehlentwicklung unserer Gesellschaft – Kontrollverlust in der Globalisierung, Massentierhaltung, Zerstörung natürlicher Lebensräume? Oder liegt es bisweilen an uns selbst – Vorurteile, unbegründete Angst, Halbwissen? Nur wenn wir, als Individuum und Gesellschaft, uns selbst der größte Kritiker sind, können wir Demut und Toleranz gegenüber der menschlichen Fehlbarkeit aufbringen.

Wir müssen ihn finden, den Sündenbock in uns, und ihn dann überwinden. Das ist meine Antwort.

Medea.Stimmen, von Christa Wolf. Erschienen im Suhrkamp-Verlag.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Oliver Zech

Meine journalistischen Hauptinteressen liegen auf Literatur und Film im Zusammenhang aktueller Ereignisse.

Oliver Zech

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