Die Enden der Parabel - Oranier vs. Cassandra

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Nachts sind alle Buchseiten grau. Nur zwei Köpfe vor zwei Bildschirmen leuchten in die Pynchonsche Dunkelheit. Ein tastendes Gespräch.

00:25 oranier: Sagst du noch mal kurz was zu dem Buch?

Wie erkennt man, wer dazu schon was geschrieben hat?

Cassi: Moment, du bekommst einen Link.

00:26 www.freitag.de/community/blogs/themen/parabel

Da steht alles, was schon geschrieben wurde.

oranier: Kann man es verstehen?

00:28 Cassi: Die Blogs oder das Buch?

oranier: Das Buch.

Cassi: Man muss sich konzentrieren und alles versteht man auf Anhieb nicht. Das kommt aber. Je mehr man liest, desto mehr versteht man. Nach und nach wird eine Struktur sichtbar, die auf dem Wechsel der Perspektiven beruht. Wieviel hast du gelesen?

oranier: 20 seiten

00:32 Cassi: Ok, das ist alles noch Pirat, ab Seite 30 kommt die Sicht seines Mitbewohner Teddy Bloat.

oranier: Ja, da bin ich schon.

Cassi: Dann hast du mehr als 20 Seiten.

oranier: Nein, der Roman beginnt auf Seite 9.

Cassi: ok

00:33 Gut, also ab der Seitenzahl 30 kommt Bloat, dann Slothrop, in dessen Büro Bloat herumgeschnüffelt hat, usw.

oranier: Für mich ist das nichts.

00:34 Cassi: warum?

oranier: Ich habe den Anspruch an einen Romanautor, dass er mich in eine verständliche Geschichte hineinzieht

00:35 und nicht, dass ich zig Seiten lesen muss, bevor ich möglicherweise etwas verstehe. Die Personen werden ja nicht einfach charakterisiert, sondern sie "handeln" doch in einer bestimmten Umgebung.

00:36 Und die Umgebung sowie die Geschehnisse sind bizarr und unverständlich.

Cassi: am Anfang, ja.

00:37 Willst du nicht mehr weiter lesen? Oder würdest du lieber weiter lesen, wenn du meine Strukturierung hast?

oranier: Weder - noch.

00:38 Meine Gepflogenheit ist: ich lese dreißig Seiten von einem Buch und wenn es dann nichts für mich ist, werfe ich es in die Ecke.

00:39 Denn es gibt noch zigtausend andere Bücher, deren erste dreißig Seiten ich noch nicht gelesen habe.

00:40 Und da das nächste Kapitel (das sind doch die mit den kleinen Quadraten begrenzten Passagen, oder?) bis Seite 40 geht, habe ich mir für heute vorgenommen, noch die zwanzig Seiten zu lesen. Dazu bin ich wegen unseres Chattens nun nicht gekommen. Morgen.

Cassi: Ich bin schuld :)

00:41 oranier: Und ich bin schuld daran, dass du noch nichts im Blog geschrieben hast.

Cassi: naja gut. ich wollte auch schon längst 100 Seiten weiter sein.

Dann ist der erste Teil des Buchs zu Ende.

oranier: Wie weit bist du?

Cassi: 136

00:42 oranier: Kannste mal sehen. Das ist auch ein Indikator dafür, dass das Buch nichts für mich ist. Ich muss mich da durchquälen, finde es auch sprachlich mäßig.

Cassi: Wer sagt denn, dass ich mich nicht durch bestimmte Passagen quäle?

00:43 Aber andere lese ich umso lieber. Wenn ich einmal drin bin, geht es. Wenn ich wieder neu anfange, fällt es mir manchmal erstmal schwer.

oranier: Wieso tust du das denn?

Cassi: Weil es mich interessiert. Das Buch ist ein Rätsel und eine Herausforderung.

00:44 oranier: Oder weil du eine Verpflichtung gegenüber dem Freitag und Maike Hank eingegangen bist?

Cassi: Das würde vielleicht greifen, wenn ich es komplett schrecklich fände.

00:45 Aber da ich das nicht tue, greift das, was ich eben sagte.

Jetzt mach mir das Buch nicht madig :)

oranier: Nein, sorry, das ist nun wirklich nicht meine Absicht.

Dann würdest du es trotzdem lesen?

00:46 Cassi: Das ist eine gute Frage. Das weiß ich nicht.

oranier: Ich frage dich und mich nur, welches Motiv man haben kann, ein Buch zu lesen, das nicht nur Lust, sondern auch Frust bereitet.

Das leuchtet mir unbedingt ein für die Kritik der reinen Vernunft.

00:47 Aber nicht für einen Roman.

00:48 Cassi: Vielleicht, weil man seine eigenen Grenzen überwinden will. Vielleicht, weil man zeigen will, dass der Autor bescheuert schreibt, dass das Werk zu hoch gewichtet wird. Vielleicht, weil man die unerwartete Überraschung liebt, wenn es auf einmal doch Fahrt aufnimmt, nach einer langen Einleitung mit vielen Details

oranier: Ja, du bist halt eine Kämpferin. Ein Kämpfer bin aber ich nicht.

Cassi: Vielleicht auch, weil es anspornt, das Buch besser zu verstehen als du. B-)

oranier: Dann muss ich ja jetzt das Gegenteil vom Madigmachen bei dir erreicht haben.

Cassi: Nicht unbedingt, du bist überzeugend :), bei dir muss ich immer sehr hart kämpfen.

00:50 oranier: Ich versuche doch gar nicht, dich von etwas zu überzeugen. Ich spreche ganz subjektiv von meinen Lese-Erfahrungen.

00:51 Habe dabei aber ausgelassen: Es geht im Liegen und im Stehn, sogar im Sitzen soll es gehn!

Cassi: Mal im Ernst: Du musst ja nichts von deinen Lesesituationen schreiben. Das finde ich auch, wenn man es unbedingt hineinbringen will, weil man sich dazu verpflichtet fühlt, ein bisschen gewollt. Anders verhält es sich, wenn einem diese Art der Leseerfahrung so aus der Feder fließt.

00:56 oranier: Bist du weg?

Cassi: Nein.

00:58 Es beeinflusst mich aber, wenn du deine subjektiven Empfindungen beschreibst.

oranier: wie das?

Cassi: Ich versuche dann zu verstehen, was du meinst, versetze mich in deine Lage,

00:59 und dann muss ich kämpfen.

oranier: Welchen Sinn hat das?

Cassi: Weiß ich nicht, ich mach das immer so. Ich kann gar nicht anders.

oranier: Wie gesagt: Kämpferin! Ich bin da ja eher der Harmonist.

01:00 Cassi: Das glaubt dir kein Mensch.

oranier: Das merkt man ja auch an unser beider Auftreten im Blog.

Cassi: Veräppeln kann ich mich selbst. Aber das ist eine gute Frage: Warum kämpfst du nicht, wo du es doch sonst überall machst?

01:02 oranier: Wenn ich den Auftrag bekäme, eine Literaturkritik zu verfassen, würde ich an dem Buch "arbeiten". D.h. ich würde mir ein Urteil bilden, das ich dann bereit wäre gegen Gegenmeinungen zu verteidigen. Aber das ist nicht meine, das ist nicht unsere Situation.

01:03 Ich wollte etwas lesen, das mir Vergnügen bereitet und bei dem ich etwas Neues über die Welt erfahre, ganz allgemein, auf die spezifische Weise, die Literatur bietet.

01:04 Und nicht "arbeiten".

Cassi: Und du meinst, das kannst du nach den ersten dreißig Seiten erkennen?

oranier: Ob mir die Lektüre Vergnügen bereitet? Ich bitte dich!

01:05 Cassi: dass sie dir danach kein Vergnügen bereiten wird.

oranier: Was bildet sich ein Autor ein, der mir zumutet, erst zig Seiten durchzuackern, und danach kommt der Lohn des Lesevergnügens?

01:08 Cassi: Ich glaube nicht, dass das der Anspruch des Autors ist. Was fasziniert an Figuren? Oder auch an Menschen allgemein? Mich fasziniert, dass man ersteinmal sehr wenig über sie weiß. Dass sie etwas Geheimnisvolles haben, das man ergründen will. Und je komplexer es ist oder je weniger man weiß, desto mehr Spaß macht es mir herauszufinden, was es nun damit auf sich hat. Dafür nehme ich in Kauf, dass ich zuerst an manchen Stellen vielleicht nicht weiter komme oder etwas nicht verstehe. Ich ärgere mich auch nicht darüber, sondern nehme es ohne Wertung hin. Denn die Person wird nach und nach immer vertrauter, das ist dann der Lohn.

Und eine komplexe Figur, deren Charakter man sich erarbeitet hat,

01:09 bereitet ein viel schöneres Lesevergnügen als eine, die schon immer offen da lag und mit der man lustlos durch ihr Leben stolpert.

oranier: Wie kommst du auf "lustlos"?

01:10 Cassi: Weiß nicht, geht mir manchmal bei Romanen so. Sie sind dann zu einfach gestrickt und man ahnt im Vorhinein schon, wie sie wahrscheinlich verlaufen werden.

01:11 Was machst du?

01:12 oranier: Ich habe eben zurückgeblättert. Findest du Pirat etwa eine komplexe Figur? Oder was willst du mir vermitteln?

01:14 Cassi: Die Gesamtheit des Romans ist komplex. Vielleicht habe ich es auch falsch ausgedrückt. Ich weiß noch nicht, ob Pirat eine komplexe Figur wird. Aber ich bin neugierig, wer er ist, man weiß nicht richtig, was er macht, außer, seinen Bomben hinterherrennen, oder auf welcher Position er sitzt, wie er genau dort hingekommen ist.

Das wird erst nach und nach aufgeblättert und fügt sich dann zu einem Gesamtbild zusammen, auch in Beziehung zu den anderen Personen.

01:15 oranier: Was aber über weite Strecken für mich rational nicht nachvollziehbar beschrieben wird.

Cassi: Was? Die Beziehung zu den anderen?

01:16 oranier: Nein, "was er macht, außer, seinen Bomben hinterherrennen, oder auf welcher Position er sitzt, wie er genau dort hingekommen ist." und überhaupt die gesamte Handlung.

01:18 Wieviele Bananenstauden passen auf einen privaten Dachgarten, und wie gedeihen die in England, so, dass man damit laufend einer Kompanie vielfältige Bananenfrühstücke anbieten kann?

01:19 Lasst uns mal Schluss machen, ich werde müde. Können wir gerne fortsetzen, nachdem ich die nächsten noch vorgesetzten 20 Seiten gelesen habe.

Cassi: Gut, können wir machen. Aber moment, auf deinen letzten Punkt will ich noch kurz eingehen.

oranier: ja natürlich, bitte!

01:21 Cassi: Erstens haben die Bananen einen Symbolcharakter inne, ganz ernst gemeint ist das Beschriebene gewiss auch nicht. Was es genau damit auf sich hat, darüber muss ich nochmal nachdenken. Was mir aber viel wichtiger ist: Man erfährt doch langsam immer mehr über ihn und seinen Hintergrund, aber die Erzählung seiner Geschichte fängt eben ein paar Jahre früher an, und setzt nicht direkt an der Position an, an der er sich nun befindet. Man erfährt etwas über seine jungen Jahre, seine Liebeserfahrungen, und dann hört es erstmal auf. Das steigert doch eher die Spannung. Mal sehen, ob ich das morgen besser formulieren kann, als jetzt gerade, aber dann weiß ich, wo ich weiter denken will :)

01:22 oranier: Siehst du, das kannst du nach 136 Seiten sagen. Ich weiß nach 20 Seiten gar nichts über seine jungen Jahre und seine Liebeserfahrungen.

Cassi: Das kommt aber nicht erst nach seite 100. moment.

01:23 So in den 50ern, ungefähr.

01:24 Da werden sowieso sehr viele persönliche Details beschrieben, auch von anderen Protagonisten.

oranier: ok., also hab ich's jedenfalls nicht überlesen. Hätte mir aber auch passieren können. Gut, morgen weiter, ja?

Cassi: ja. Das macht Spaß :)

oranier: Übrigens dazu doch nochmal etwas: Wenn du dich durch die Äußerung meines Missbehagens an dem Buch davon überzeugen - nein, dazu überreden - ließest, aufzugeben, dann wärst du nicht recht gescheit, was mir bisher an dir jedenfalls verborgen geblieben ist.

Andererseits könnte dein Vorgriff für mich ja evtl. doch ein Motiv sein, bei der Stange zu bleiben.

01:28 Das sehen wir morgen bzw. nach den nächsten 20 Seiten, ja?

Cassi: ok. Und im Notfall habe ich auch nochmal die Chance, dich zu überreden, ja? Ich überleg mir schonmal was für die Verteidigung des Angeklagten ;)

01:29 oranier: Ich lass' mich von einer Charmeuse ggf. zu so allerhand überreden, aber kaum zu der Lektüre eines über tausendseitigen Romans.

Cassi: Das werden wir dann sehen.

oranier: Kämpferin!

Cassi: Außerdem meinte ich natürlich: überzeugen, nicht überreden. Den Anspruch habe ich noch an mich selbst.

01:30 oranier: Ach so, einverstanden. Dazu bedarf es dann der überzeugenden Argumente.

Cassi: So ist das. Dann gute Nacht. Schlaf gut und träum schön vom Pynchon.

01:31 oranier: Danke, dass du mir Alpträume wünschst.

Cassi: Da steht ein Wort in dem Satz: "schön". Ich weiß nicht, ist dir das ein Begriff?

01:32 schön bedeutet gut bedeutet kein Alptraum.

oranier: ok., hab ich nicht berücksichtigt.

Cassi: jaja. der große Sprachkritiker. Das hat man gern.

oranier: Was ist das jetzt?

01:33 Cassi: was?

oranier: Deine ironische Bemerkung.

01:34 Du feixt dir eins, wie?

Cassi: Darf ich das nicht?

oranier: Darüber, was du darfst, habe ich ja nicht zu befinden, aber mach nur weiter so, dann wirst du schon sehen, was du davon hast.

01:35 Cassi: Da bin ich ja mal gespannt. Ich liebe Überraschungen.

oranier: Schön, die Romane mit ihren Überraschungen sind ja andererseits erfunden worden für ein bürgerliches Publikum, das die Überraschungen aus dem wirklichen Leben zu eskamotieren bestrebt ist. Die Chancen sinken vor diesen Hintergrund jedenfalls, dass du mich noch überreden kannst.

Cassi: Überzeugen.

oranier: Tschö jetzt!

Cassi: tschüssi

oranier: Nein, das hat nun der Sprachkritiker gezielt so ausgedrückt.

01:37 Denn das Überzeugen hängt ja nach meinem Selbstanspruch von deinen sachlichen Argumenten ab und darf nicht beeinflusst werden durch gezielte Sottisen.

Cassi: Na also. Dann habe ich schon gewonnen, wenn du es nicht davon abhängig machst, dass ich ein wenig über dich grinse; was du im übrigen selbst zu verantworten hast.

01:38 oranier: Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben, habe ich gerade von einem Pubertierenden erfahren.

Cassi: Welche Weisheit. Zum Glück sind wir beide aus der Schule mit ihren hierarchischen Strukturen heraus.

01:39 oranier: Ich schon ein wenig länger als du.

Cassi: Das hätte ich ja jetzt nicht gedacht. Tschüssi.

oranier: Siehst du, so kann man sich täuschen. Gute Nacht, meine Liebe!

Dieser Chat ist Teil eines Projekts:

Wir lesen gemeinsam Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel".

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden