Die Kunst, falsch zu interpretieren

Seeßlen & Sarrazin Warum sich von einem Text nicht so leicht auf die Persönlichkeitsstruktur des Autors schließen lässt - auch nicht, wenn dieser Sarrazin heißt.

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Schon Börne wusste: auch der erste Grobian von Deutschland kann die zartesten Lieder dichten. Gemälde von Moritz-Daniel Oppenheim.

Irgendwann in den Siebzigern hielt der Schriftsteller Michael Ende in einer hiesigen Buchhandlung eine Dichterlesung. Als Autor des Bestseller-Romans „Momo“ hatte er zumal in der „alternativen Szene“ viele Verehrer, vor allem aber Verehrerinnen. Die waren gekommen, um in ihm die schöne Seele wiederzuerkennen, die sie in ihm aufgrund des Buches imaginierten. Er jedoch enttäuschte die entsprechenden Erwartungen bewusst und zielgerichtet, indem er erklärte, es sei sein Beruf, Geschichten zu erfinden und zu erzählen, mit seiner Person hätten diese wenig zu tun.

Dies ist sozusagen das positive Gegenbeispiel zu dem Versuch, im Werk Sarrazins einen psychischen Defekt des Autors auszumachen, dessen angebliche Gefühlskälte aber vielleicht nur dem äußeren Eindruck entnommen wird. Daniel Bax von der taz, Sarrazin gewiss nicht freundlich gesonnen, entschuldigt den Ausfall Mely Kiyaks gegen diesen so:

„Offenbar war ihr nicht bekannt, dass Sarrazin an einer halbseitigen Gesichtslähmung leidet, seit ihm vor acht Jahren ein Tumor am Ohr entfernt wurde, was bei ihm den Eindruck der Einfältigkeit und Empathielosigkeit verstärkt.“

In beiden Fällen, bei den Damen aus der Buchhandlung und dem Möchtegern-Psychoanalytiker Georg Seeßlen, liegt ein verbreitetes naives Verständnis des Verhältnisses von Autor und Werk zugrunde, Seeßlen sollte es eigentlich besser wissen: Der Autor offenbart sich danach mehr oder weniger unmittelbar im Werk, das dergestalt Rückschlüsse auf die Person des Autors und dessen geistige und seelische Verfasstheit erlaubt. Diese Sicht wird von den Dichtern des Sturm und Drang mit ihrem Geniekult in die Welt gesetzt, pflanzt sich über die Romantik fort und feiert offenbar fröhliche Urständ.

Michael Ende gibt uns den Wink, wie das Verhältnis tatsächlich aussieht: das Werk ist in aller Regel nicht der unmittelbare Ausdruck des genialen Künstlers, sondern ein zielgerichtet auf den Rezipienten hin geschaffenes professionelles Produkt. Man hat versucht, von den Kompositionen Mozarts auf dessen jeweilige Gefühlslage zu schließen. Seine Biografen aber wissen: Er schuf die traurigste Musik in seinen fröhlichen Lebenslagen und umgekehrt. Das Werk ist nicht Ausdruck seines Gefühls, sondern ist für den Hörer komponiertes Gefühl.

Die Literaturwissenschaft situiert weitgehend eine besondere Instanz zwischen Autor und literarischem Werk, den „Erzähler“. Eine fiktive Größe, von der her das Erzählte als auf je spezifische Weise organisiert vorgestellt wird. Auch wenn er als Ich-Erzähler auftritt, ist er keineswegs identisch mit dem Autor, sondern wird von diesem kreiert, um besonderen Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen Gestalt zu verleihen. Der sachkundige Interpret, die Interpretin, sie deuten diese in den gegebenen Hinsichten im Kontext des Werkes aus, da können historisch-soziale, soziologische, psychologische Paradigmen im Vordergrund stehen, aber was interpretiert wird und einzig interpretierbar ist, ist immer das Werk, nie die Person des Autors. Mit Werkimmanenz hat das übrigens nichts zu tun.

Zurück zum Sturm und Drang als dem Ausgangspunkt der Vermengung des (genialen) Autors mit seinem Produkt: Damals erschien, zumal bei Schiller, das ästhetische Ideal der „schönen Seele“. Aufschlussreich und ernüchternd zugleich ist hierzu ein Text von Ludwig Börne:

„Was heißt Stil? Buffon sagte: Le style c'est l'homme. Buffon hatte einen schönen und glänzenden Stil, und es war also sein Vorteil, diesen Satz geltend zu machen. Ist aber der Satz richtig? Kann man sagen: wie der Stil, so der Mensch? Nur allein zu behaupten: wie der Stil, so das Buch – wäre falsch; denn es gibt vortreffliche Werke, welche in einem schlechten Stile geschrieben sind. Doch die Behauptung: der Mensch ist wie sein Buch – ist noch falscher, und die Erfahrung spricht täglich dagegen. Der eine dichtet die zartesten Lieder und ist der erste Grobian von Deutschland; der andere macht Lustspiele und ist ein trübsinniger Mensch; der dritte ist ein fröhlicher Knabe und schreibt Nachtgedanken.“

Was ist Sarrazin für einer? Ein Grobian? Ein trübsinniger Mensch? ein stupider Mensch? Es lässt sich seinen Texten nicht wirklich entnehmen. Zwar schreibt er keine Romane, aber das oben Ausgeführte lässt sich weithin auf Autoren politisch-sozialer Literatur und ihre Werke übertragen. Magda schreibt in dem anderen Blog, Sarrazin wisse „nicht immer, wovon er spricht, sondern ganz genau, was er "sagen" will.“ Dem wäre hinzuzufügen, er weiß zumal, wie er etwas zu sagen hat, um die gewollte Wirkung zu erzielen, d.h., das ICH in seinem Werk ist bewusst situiert und inszeniert, wie der Ich-Erzähler im Roman.

Wer das veröffentlichte Ich bruchlos mit dem Autor gleichsetzt, verfehlt die grundlegenden Bedingungen von Literatur überhaupt und ihrer angemessenen Rezeption.

Dies ist die Fortsetzung des Blogbeitrags "German Rechthaberei? Gegen Georg Seeßlen." https://www.freitag.de/autoren/oranier/german-rechthaberei-gegen-georg-seesslen

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