Seeßlen zieht hier mit einem Text gegen Sarrazin zu Felde, der offensichtlich so einige FC-Mitglieder anspricht, ja überzeugt. Verständlich, aber die Überzeugungskraft des Textes nährt sich ganz gewiss weniger aus seinem informativen Gehalt, der überaus dürftig ist, als vielmehr aus einer geschickten, für den Autor einnehmenden Rhetorik, die jedoch eher manipulativ als aufklärend wirkt.
- Seeßlen schreibt eingangs:
„Das Buch enthält nichts, was dein lokaler Rechtspopulist um die Ecke nicht auch bei jeder Gelegenheit zum Besten gibt.“
Dabei hätte er es ja auch eigentlich bewenden lassen können, getreu der Devise: goar net ignorieren!. Er jedoch fähr fort und wechselt unversehens auf eine andere Bühne. Im ganz großen Gestus einer quasi religiösen Botschaft schreibt er:
„Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dieses Buch wie eine Krankenakte zu studieren.“
Er gemahnt an Luthers Diktum: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Seeßlen aber könnte nicht nur anders, sondern er müsste sogar anders. In dünkelhaft anmaßerischer Weise gibt er sich quasi als psychiatrische Koryphäe aus: er „studiert“ die als Buch getarnte Krankenakte Sarrazins. Das Buch ist quasi ein Palimpsest, was dort geschrieben steht, ist nur die Oberflächenstruktur. Darunter gibt es eine „Tiefenstruktur“, in der die eigentliche Aussage Sarrazins offenbar wird, vorzüglich für Seeslen: er will sich, so der eigentliche Subtext, „von seinen christlichen und humanistischen Restemotionen und -verpflichtungen befreien.“
Was ist die Rechthaberei Sarrazins gegen eine derartige Hybris?
Dabei schrickt Seeßlen nicht einmal vor offenkundigen Scheinzitaten zurück. In Anführungszeichen:
„Ich habe recht und alle, die etwas was (sic!) dagegen haben, sind Schurken, Wahnsinnige oder Verräter“.
Ich würde mich, in angemessener Bescheidenheit, nicht als psychologischen, psychiatrischen oder psychoanalytischen Fachmann bezeichnen, aber ich verwette meinen Hals darauf, dass vielleicht Scharlatane, niemals aber seriöse Fachleute, sich bloß anhand eines gedruckten Textes eine Diagnose über die Persönlichkeitsstruktur des Autors erlauben würden. Und schon gar nicht als „Krankenakte“ in der Öffentlichkeit, und erst recht nicht mit dem Ziel der Herabwürdigung (vgl. dort Cristine Quindeau!),
Dass einem solchen Bestreben aber nicht nur ethische Bedenken, sondern auch und gerade strukturelle Hindernisse im Wege stehen, dazu folgt ein zweiter Teil, u.a. gegen Miauxx.
Ganz unerfindlich bleibt nebenbei, wieso der Autor sich gegen manifeste Vorurteile wendet, dabei aber Sarrazins Haltung umstandslos mit einem - negativen - nationalistischen Etikett versieht („German Rechthaberei“, - „deutsche Krankengeschichte.“).
Teil 2, auch in Antwort auf einige Kommentator_innen unter diesem Beitrag:
"Die Kunst, falsch zu interpretieren.
Warum sich von einem Text nicht so leicht auf die Persönlichkeitsstruktur des Autors schließen lässt - auch nicht, wenn dieser Sarrazin heißt."
Kommentare 22
Immerhin ist Sarrazin ein gebildeter, hoch intelligenter Mann, der weiss wovon er spricht.
Weiß er das? Dumm ist er nicht, hochgebildet auch, aber er "weiß" nicht immer,wovon er spricht, sondern ganz genau, was er "sagen" will. Und dafür bietet er - so sagen die Rezensenten - oft sehr zweifelhafte Nachweise und Argumente auf. Darin liegt auch das Ärgernis.
Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Sarrazzin umzugehen: Entweder man diskutiert ihn sachlich, mit besten Chancen auf Widerlegung, oder man ignoriert ihn. ALLE nehmen Tor 3, das hysterische "Buh Buh Igitt, der Sarrazzin, auf ihn mit Gebrüll". Als wäre er die NPD. So, ich mach jetzt mal weiter mit Ignoranz.
Es geht hier um Georg Seeßlen. - Auf Youtube lässt er sich als einen der bekanntesten Filmkritiker Deutschlands vorstellen, der mittlerweile von seiner Olivenölproduktion lebe. Jedenfalls sagt er in diesem Video: "Ich hab' überhaupt kein Interesse an Verissen, oder so." Gemeint hat er Filmkritiken. Vielleicht ist das eine Erklärung für seine Pathologisierung Sarrazins. Deuten liegt ihm näher als die sachliche Analyse.
Deutete ich anhand diverser Interviewschnippsel, die auf Youtube zu finden sind (siehe Beispiel), die psychische Grundverfasstheit, die über Seeßlens Rhetorik zu Ausdruck kommt, na ja, da könnte man auch einiges zusammenschreiben. Doch damit würde ich dem selbst ernannten Analytiker, der Sarrazin auf seine Couch gelegt hat, Unrecht tun.
https://www.youtube.com/embed/XEs22MfBjzk?rel=0
"Mit folgendem Unterschied: Seeßlen schreibt einen Blog in einem Meinungsmedium, Sarrazin schreibt einen Bestseller, mit freundlicher Unterstützung von TV- Sendern, Zeitungen und Rundfunk."
Ganz so ist es nicht. Schließlich findet sich Seeßlens Text auch in der Printausgabe des Freitag. Die Redaktion hat ihm dafür zwei (!) Seiten zur Verfügung gestellt und mit dem Affenbild (siehe bei Seeßlens Online-Text) illustriert.
Einspruch, lieber Achtermann. Seeßlen ist, was Film und Kulturindustrie angeht, eine Referenz, beginnend von den vielbändigen "Grundlagen des populären Films" (Anfang der 80er bei Rowohlt) bis zu den "Blödmaschinen" (bei Suhrkamp). Viele auch ältere Aufsätze sind heute noch lesenswert. Ich erinnere mich an eine wunderbare "Semiologie der Glatze".
Den Sarrazin-Beitrag fand ich auch etwas enttäuschend (zu dem fällt einem aber auch nichts mehr ein) - enttäuschend finde ich aber auch dieses Eindreschen auf Seeßlen.
Ein neuer Wind in der Community? Outen wir uns jetzt als sarrazin-affin (vielleicht hat er ja doch nicht unrecht)? Oder sind wir gegen Intellektuelle von rechts und von links, weil die Wahrheit in der Mitte liegt?
Warum Einspruch? Hab ich was gegen Seeßlen geschrieben? Er ist für mich ein Intellektueller alter Schule. Sozusagen das Gegenteil von Precht. Das muss nichts Schlechtes sein. Aber eines kann er nicht: sich vermarkten. Das kann man ihm auch zugute halten. Mich erstaunt, dass Seeßlen sich zu so einem Pamphlet hat hinreißen lassen. Aber auch, dass die Redaktion diesen Text abgedruckt hat.
Meinen vorgesetzten 2. Teil wollte ich mir neuerlich nach dem Gros der Kommentare hier eigentlich sparen. Aber für solche Leser wie dich werde ich mich doch dazu aufraffen.
Ich könnte ja auch auf die Kommentare antworten, wenn ich nur wüsste, was. "sarrazin-affin": deutlicher kann man meinen Beitrag z.B. gar nicht missverstehen. Christine Quindeau entfesselt in dem Blog von Seeßlen eine Diskussion über unseriöse Kritik, aber was sie auslöst ist das alte FC-Lied: Wer ist für und wer ist gegen uns?
Da ich das "Sarrazin-affin" mit meiner ironischen Frage: "Outen wir uns jetzt als sarrazin-affin (vielleicht hat er doch nicht ganz unrecht?)?" in die Debatte gebracht habe, eine kurze Anmerkung (eine lange ist mir der Sarrazinrummel, der jetzt- etwas verspätet - doch noch einzusetzen scheint, nicht wert, denn alles ist gesagt):
Es geht mir nicht um "für oder gegen uns", sondern darum, dass hier einem der wenigen wichtigen Publizisten der Linken (im weiten Sinne), sobald er einmal etwas "schludert", sofort der Prozess gemacht wird, weil er vielleicht etwas mißverständliche Sprachbilder verwendet (was jedem passiert). Für jeden, der Seeßlen öfter liest, und zwar mit Gewinn, sind sie übrigens nicht mißverständlich.
Dann kann man auch locker von "dürftigem Inhalt", "Anmaßung", "Gestus religiöser Botschaft", "dünkelhaft anmaßender Weise", in der er sich angeblich "als psychiatrische Koryphäe"ausgibt" etc. etc. schreiben. Und alles, weil Seeßlen von einer Lektüre des Buches als "Krankenakte", von "German Rechthaberei" und einer "deutschen Krankengeschichte" spricht (in Analogie übrigens zur viel verwandten "German Angst" oder dem "Mal francais")? Ach nee!
Wie soll man denn die Kommentare bewerten?
Das Lustige ist, dass Sarrazin Unrecht hätte, wenn... (heißt, es gibt ihn also, den Tugendterror)
Da stürmen sie Sarrazins Lesungen.
...hysterische Reaktionen...
...keinem echten Diskurs aussetzen...
Sind Sie im lehrenden Bereich? (na ja, das ist schon wieder köstlich)
...die psychische Grundverfassung, die über Seeßlens Rhetorik zum Ausdruck kommt (ich weiß, es ist ironisch gemeint, geht aber völlig am inkriminierten Seeßlentext vorbei).
"Für jeden, der Seeßlen öfter liest, und zwar mit Gewinn, sind sie übrigens nicht mißverständlich."
Ach so, und welche Werke, bitteschön, muss ich zuerst lesen, um das fragliche Elaborat nicht misszuverstehen?
"dass hier einem der wenigen wichtigen Publizisten der Linken (im weiten Sinne), sobald er einmal etwas "schludert", sofort der Prozess gemacht wird,"
Sie lesen wohl zuviel Sarrazin. Kritik an Schluderei ist: ihm wird der Prozess gemacht?
"Wie soll man denn die Kommentare bewerten?" Was weiß denn ich, und was hab' ich damit zu tun?
Zu der Pathologisierung als scheinbares Mittel der Kritik: Wozu die vielen Worte? Wenn Sie das überzeugt: bitteschön!
Warten Sie meine Fortsetzung ab!
Ist der gedruckte "Freitag" nicht überhaupt dünn?
"aber er "weiß" nicht immer,wovon er spricht, sondern ganz genau, was er "sagen" will."
Das sagst du, Magda. Aber sagt er nicht, was er sagt und wie er es sagt, weil er seit seiner Kindheit ungeliebt ist?
Kann ich Ihnen jetzt schon beantworten:
Franz Josef Degenhardt, Große Schimpflitanei
Abgesang
Meinem alten Schutzpatron,
Dieb und Dichter, Franz Villon,
sing ich oft auf seinem Grab,
lacht der sich die Eier ab
über diese Litanei,
und dann singen wir zu zwei:
Wenn ich an dem Galgen häng
und mir wird der Hals zu eng,
weiß nur ich, wer da so log
und wie schwer der Arsch mir wog.
"Für jeden, der Seeßlen öfter liest, und zwar mit Gewinn, sind sie übrigens nicht mißverständlich."
Ach so, und welche Werke, bitteschön, muss ich zuerst lesen, um das fragliche Elaborat nicht misszuverstehen?
fragen Sie augenscheinlich empört. Nun, ich empfehle Ihnen das mit Markus Metz geschriebene "Elaborat" "Blödmaschinen" (Suhrkamp, 2011), vor allem den Epilog (S. 741 ff): Der Untergang des Narrenschiffs.
"Das ist m.E. nur dann statthaft ..."
Oh, Madame sortieren die Kommentare nach Statthaftigkeit.
"wenn Sie mir näher erläutern, was Sie mir damit detalliert zu sagen wünschen."
Sie hatten doch überlegt, "ob ich den Autor fragen soll, wie es ihm denn so ohne Hals ergeht ;)."
Ich kann Ihnen das leider nicht näher erläutern, auch wenn ich wollte. Was ich Ihnen deshalb ersatzweise detalliert zu sagen wünsche, ist, wie es mir geht, wenn mir der Hals zu eng und der Arsch zu schwer wird.
Ergänzung:
"Machen Sie das immer so?" Nein, nur bei zu schweren Fragen.
So weit kommt das noch, dass mir hier jemand die deutsche Sprache (Lexik) meint erklären zu müssen. Da übernehmen Sie sich mal nicht!
siehe hier:
http://www.dwds.de/?qu=schwer
2 e beta:
mit Schwierigkeiten verbunden
eine schwere Arbeit, Aufgabe, Frage
alles klar?
Grüße
Das ist ein interessanter Aspekt: Die Frage nach den nicht gestellten Fragen Sarrazins, "warum ist das so", wie er behauptet, dass es sei? Er nennt seine Thesen schlicht Axiome, ist nicht neugierig, stellt keine Fragen, vermisst keine Antworten und lehnt Kritik als "Tugendterror" ab.
Ein beispielhafter Auszug aus "Thilo Sarrazin im Gespräch mit Friedberg Meurer" DLR
<Sarrazin: Medien folgen fehlgeleiteten Gleichheitsgedanken".>
[...]
Meurer: Nehmen wir mal ein anderes Ihrer Axiome des Tugendwahns, Herr Sarrazin, 14 an der Zahl, eins haben wir genannt, Männer und Frauen. Zweites Beispiel: Für Armut und Rückständigkeit in anderen Teilen der Welt tragen westliche Industriestaaten die Hauptverantwortung, sagen Sie, das sei ein Axiom. Wir reden doch, wenn es um Entwicklungshilfe geht, ausführlichst über gute Regierungsführung, Good Governance. Ist das ein Axiom vielleicht aus den 70er-Jahren, aber doch nicht von heute?
Sarrazin: Das ist absolut von heute. Ich erinnere mich an einen Kommentar im "Tagesspiegel" über das Lager der Asylanten am Oranienplatz, wo der Kommentator schrieb, es geschehe doch den Berlinern dort ganz recht, mal zu sehen, dass hier der Wohlstand auf dem Buckel anderer letztlich entstehen würde. Das ist genau dieses Denken. Und dieses Denken ist extrem weit verbreitet. Tatsache aber ist, dass die relative Rückständigkeit der meisten afrikanischen Länder mit der Kolonialzeit gar nichts zu tun hat, sondern ausschließlich mit der schlechten Governance in diesen Ländern. Und Tatsache ist auch, dass in der Summe die Entwicklungshilfe diesen Ländern mehr schadet als nutzt. [...]
Das denke ich, ist eher seine Denkschablone als eine ernsthafte wissenschaftlich begründete Analyse.
Vielen Dank für diesen Grundkurs in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspolitik. Ich bin tief beeindruckt.
Ich würde so etwas Grundlegendes aber keinesfalls schreiben, wenn ich "gerade nur noch ein paar Minuten Zeit" hätte, sondern mich bemühen, ein solches Elaborat, soweit es mir möglich wäre, in korrektes Deutsch zu bringen.
" ... und Wissenschaft bleibt nicht am Fleck stehen, sondern entwickelt sich stetig weiter. "
Ja, ja, nüscht bleibt, wie's ist."
Habe ich das bestritten? Ich kann das nicht beurteilen, weil ich grundsätzlich nur Urteile abgebe über etwas, das ich kenne. Ich habe im Gegenteil geschrieben:
"Dabei hätte er es ja auch eigentlich bewenden lassen können, getreu der Devise: goar net ignorieren!" Und zwar genau unter der Bedingung, dass Seeßlen recht hat. Denn worauf ich abziele, ist, dass ich die braune Soße in den Vordergrund gestellt wissen möchte, und nicht angebliche Psycho-Defekte Sarrazins.
Denn abgesehen davon, dass es schlechterdings nicht möglich ist, solche aus dem Werk zu erschließen (siehe dazu mein neues Blog!), stellt das bei näherem Hinsehen ja eine Art von Verharmlosung dar. Denn wie können die Gedanken eines Gestörten mit denen sich die Auseinandersetzung gemeinhin nicht lohnt, zugleich die von 20%-30% der Bevölkerung sein, wie Sie glaubhaft machen. Das gilt es doch zu analysieren, nicht die geistigen Verirrungen Sarrazins.
Und zwar genau unter der Bedingung, dass Seeßlen DAMIT recht hat.