Jüdisches Leben und Sterben

Juden in Deutschland "Wir alle" müssten Rechtsradikalen unmissverständlich klar machen, dass jüdisches Leben Teil der deutschen Kultur sei, sagte Merkel am Sonntag. (Zeit-online am 3.5.)

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Der Denkende fragt sich ob solcher Sätze, in welcher anderen Welt Frau Merkel eigentlich lebt. Richtig wäre:

„Wir alle“ müssten uns endlich selber unmissverständlich klar machen, dass viel weniger als das jüdische Leben Judenhass und Antisemitismus Teil der deutschen Kultur sind, statt diesen klaren Sachverhalt jenseits holdseligen Gedenkens beständig von uns abzuspalten und zu verdrängen.

Es begann im Jahre 1095.

Als Papst Urban II. dazu aufrief, die heiligen Stätten der Christenheit von den Heiden, d.h. den Muslimen (!) zu befreien, machten sich der französische Ritter Gautier Sans-Avoir (Walter Habenichts) und der Mönch Pierre de Amiens mit 20 000 Mann auf den Weg nach Osten, um rheinaufwärts, donauabwärts über Wien, Budapest, Belgrad und Konstantinopel nach Jerusalem zu gelangen. Nach 400 Km Fußmarsch voller Strapazen, Hunger und Kälte kamen sie nach Trier, wo tatsächlich reiche Juden in schönen Häusern lebten, so, als hätten die nicht unseren Herrn Jesus ans Kreuz genagelt.

Sie raubten sie aus und zogen weiter. Dann kam der nächste Trupp und raubte weiter, bis die Juden nichts mehr hatten und von den Fanatisierten erschlagen wurden. Wenige Familien konnten fliehen, kamen aber mit ihren kleinen Kindern nicht weit, und bevor sie eingeholt und niedergemacht wurden, ertränkten sie sich lieber alle Arm in Arm in der Mosel.

Die französischen Kreuzfahrer zogen weiter, vereinigten sich mit deutschen. Wohin sie kamen, stürmten sie die Synagogen, zerstörten die Kultgeräte und erschlugen die Juden, derer sie habhaft wurden. In Worms waren es 800, in Mainz schon über 1000. Sie zogen in mehreren Kolonnen kreuz und quer durch Süd- und Westdeutschland, mordeten und plünderten in Köln, Xanten und Neuss, in Regensburg und Prag. Der Mainzer Gemeindevorsteher und Gelehrte Kalonymos* ben Meschullam konnte mit seiner Familie und einigen Freunden auf einem Schiff entkommen. Als sie in Rüdesheim ankamen, erfuhren sie, dass sie sich zum Dank für ihre Rettung taufen lassen mussten, da ertränkten sie sich im Rhein.

* Sein Urahn Kalonymos hatte einst Kaiser Otto II. 982 im Kampf gegen die Sarazenen das Leben gerettet. Er bekam dafür Haus und Bürgerrecht in Mainz und gründete ein Handelshaus und eine Familie, die Kalonymiden, die sich bald über das ganze Rheintal erstreckte und viele Gelehrte und einflussreiche Leute hervorbrachte.

Kalonymos ist eigentlich griechisch und bedeutet schöner Name. Wegen seines wohlklingenden, aber unaussprechlichen hebräischen Namens wurde er samt seinen Nachfahren der mit dem schönen Namen genannt.

Der jüdische Chronist Salomon ben Simson schreibt:

Im Jahre 4856 nach Erschaffung der Welt (1096 nach christlicher Zeitrechnung) suchten uns bittere Leiden heim, wie sie noch nie in diesem Reiche geschehen sind. Mörderische Menschen überfielen uns, fremdes Volk, ein schrecklicher Haufen. Sie wollten eigentlich im Heiligen Land das Grab ihres Heilands besetzen, aber als sie hier durch unsere Städte kamen und die Juden sahen, da sagten sie: was laufen wir hin ins Heilige Land, wo wir doch hier schon die Juden finden, die unseren Heiland gekreuzigt haben. Zuerst wollen wir uns an ihnen rächen und sie auslöschen, dass sie kein Volk mehr sind.

Im folgenden Jahrhundert wurden Juden aufgrund von abstrusen Anschuldigungen immer wieder wegen angeblicher Ritualmorde und Hostienschändungen grausam hingerichtet.

Doch dann kam das ganz große Unglück:

Im 14. Jh. wütete der Schwarze Tod in Deutschland. Schuld waren die Juden, weil sie die Brunnen vergiftet und damit die Pestseuche ausgelöst hätten. Die Bürger von Basel, Zürich und Schaffhausen verbrannten alle Juden in einem „reinigenden Feuer“. Die Straßburger folgten ihnen, sie bauten ein großes Gerüst und nagelten die Juden ein. Alle 2000 Straßburger Juden wurden dort verbrannt. Die Freiburger folterten die Juden erst so lange, bis sie gestanden, die Brunnen vergiftet zu haben, erst dann verbrannten sie sie. In Erfurt versuchten Ratsherren, sich schützend vor die Juden zu stellen, sie wurden von der Menge mit ermordet. In Köln mussten sich die Plünderer die Beute, die sie aus den Häusern der Juden schleppten, mit dem Erzbischof teilen. In vielen Städten verbrannten die Juden ihre Häuser gleich selbst und gingen mit ihren Familien in den Flammen unter. In Mainz verschafften sich die 6000 Juden, die es in dieser größten Gemeinde im Reich wieder gab, Waffen, um sich zu verteidigen. Als ihre Lage hoffnungslos wurde, legten sie Feuer und starben mit Frauen und Kindern in den Flammen.

So begann das jüdische Leben und zumal Sterben als Teil der deutschen Kultur. Das sollte man lieber den Rechtsradikalen nicht klar machen, wenn sie nicht ohnehin einen Begriff davon haben.

Der Blutstrom, der während der Kreuzzüge entsprang, mündete in den Blutozean während der Pest.

Nur wenige Juden überlebten und errichteten neue Häuser auf den Trümmern ihrer alten. Der größere Teil aber begab sich nach Polen, wohin König Kasimir sie ihrer Vermögen im doppelten Sinne des Wortes wegen gastfreundlich einlud.

Dort entstand dann das größte jüdische Siedlungsgebiet Europas, bis …

QUELLE: Leo Sievers, Juden in Deutschland. Die Geschichte einer 2000 jährigen Tragödie, Hamburg 1979

Wird ggf. fortgesetzt

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