Ein Autor, der Frauen regelmäßig als „Nüsse“, und „Kühe“ bezeichnet, hätte es heute schwer. Solche Beschimpfungen würden nicht mehr als Provokationen nachgesehen, sondern als Ausdruck eines chauvinistischen Weltbildes verstanden, dessen wir glücklicherweise überdrüssig sind. Was manchmal dennoch seltsame Blüten treibt: Etwa wenn, wie vor Kurzem, eine Frankfurter Künstlergruppe Goethes Gartenhaus in Weimar mit Klopapierrollen bewirft, um gegen des Dichters Frauenbild zu demonstrieren; dessen Werk strotze „vor erotischen Hierarchien zu Ungunsten seiner Frauenfiguren“, so ein Vorwurf.
In ihrer Abneigung stehen die Frankfurter freilich nicht alleine. Einer der bekannteren Goethe-Hasser war Rolf Dieter Brinkmann, das Enfant terrible der deutschen Literatur der 1960er und ’70er. Während seines Aufenthalts in Rom 1973 als Stipendiat der Villa Massimo führte er Tagebuch. Das Manuskript, eine umfangreiche Collage, war als Materialsammlung gedacht. Nach dem Tode Brinkmanns – er wurde 1975 in England von einem Auto überfahren – brachte es Rowohlt 1979 unter dem Titel Rom, Blicke heraus. Es avancierte in den ’80ern zum Kultbuch der Popliteratur. Das Buch ist ein Frontalangriff auf Goethe und das seit dessen Italienischer Reise dominierende Rom- und Italien-Bild. „Man müßte es wie Göthe (sic) machen“, schreibt Brinkmann, „der Idiot: alles und jedes gut finden.“ Das „ö“ ist nicht der Vertrautheit mit den Schreibweisen des 18. Jahrhunderts geschuldet, sondern Teil eines Diffamierungsprogramms.
Brinkmann findet in Rom gar nichts gut, das wird sich von der Ankunft an nicht ändern. Am Taxistand der Stazione Termini bemerkt er „undeutliche Gestalten“, die ihm Fahrten anbieten, „einer wollte bereits das Gepäck nehmen – nix da! Tatsächlich hilft da nur ein direktes Wegtreten dieser Leute, sie wissen, was mit ihnen läuft und erwarten auch gar nichts anderes.“ Wie Brinkmann hier seine Menschenverachtung mit seinen Fähigkeiten als Gedankenleser rechtfertigt, kann einem den Atem stocken lassen.
Brinkmann interessiert sich auch nicht für das antike Rom, für Renaissance oder Barock. Geschichtliches lässt ihn kalt: „Drei Säulen standen sinnlos hoch“, heißt es beim Anblick des Forums. Die Abneigung, die das Historische hervorruft, wird durch Ekel gegenüber der Gegenwart ersetzt: Auf der Straße sieht er „Todesmelodie-Pop-Slum-Jungen großstädtischen Verschnitts“, „Spaghettifresser“, bemerkt „ungeniertes Sack-Kratzen von ondulierten Herren“, die Menschen verhalten sich „südländisch ramponiert“.
Horrorfilm der Sinne
Frauen kommen bei Brinkmann besonders schlecht weg. Beschwert er sich über die „hohen quäkenden italienischen Frauenstimmen“, so kann man das fast für zärtlich halten, verglichen mit dem „amerikanischen Fotzengegacker“, das er in Rom zu hören meint. Seltsam ist Brinkmanns Bindegewebe-Obsession, die ihn immer wieder die faltigen Gesichter betonen lässt, aber die sich vor allem in den im Buch ubiquitären „Hängetitten“ äußert.
Wenn er dann wiederholt „ ‚Auch ich in Arkadien!‘, Göthe“ an das Ende einer Suada anfügt, so ist das reiner Hohn gegen die Verklärungen der Italienischen Reise, denen in der Brinkmann’schen Wirklichkeit ein „durchgehender Nonstop-Horrorfilm der Sinne und Empfindungen“ gegenübersteht. Brinkmann kannte die Italienische Reise nicht. Da er doch „mal aus Neugierde hineinschaut“, erregt er sich über die „permanente Selbststeigerung“ Goethes: „jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede“.
Dass Goethe in der Italienischen Reise nicht nur alles gut gefunden, sondern sich auch noch für alles interessiert habe, ist ein Vorwurf, der der Wahrnehmung der meisten Rezipienten entgegensteht. Ins „Gerede“ brachte er sich bei seinen Zeitgenossen ja gerade mit seiner Ignoranz gegenüber großen Teilen der römischen Kunst, vor allem der barocken, seinen Ausfällen gegen die Romantiker und seiner Ichbezogenheit. Ignoranz, Ausfälle, Ichbezogenheit: Es gibt zwischen den beiden Rom-Büchern mehr Parallelen, als Brinkmann wahrhaben möchte. Das betrifft nicht nur das Negative. Brinkmann sucht „gesteigerte Augenblicke, nicht extensive, unhistorische, nicht logisch-geschichtliche, Wirklichkeit also, wie man vom Orientalen sagt, als Verdichtung in einem ewigen Augenblick, und nicht Wirklichkeit als Ausdehnung der Zeit ins Unendliche“.
Goethe wird zwei Jahre nach Publikation des zweiten Teils der Italienischen Reise, 1819, den West-östlichen Divan veröffentlichen und dort wie in seiner Italien-Retrospektive das Sinnliche und den Genuss des Augenblicks zelebrieren. Wesentlich für den Genuss des Augenblicks ist Goethe das Sehen. Die Italienische Reise ist auch ein Bildungsroman des Auges. Und so rückt Rom, Blicke mit den Hunderten Fotos in den Collagen wiederum in die Nähe „Göthes“; wenn es nicht so absurd wäre, wäre man geneigt, zu behaupten, dass Brinkmanns ständiges Fotografieren eine Hommage an das Bild- und Bildungsprogramm des Weimaraners sei. Aber das ist es nicht. Rom, Blicke ist auch keine Auseinandersetzung mit der Italienischen Reise. Es ist eine wütende Attacke, deren Stoßrichtung durch Vorurteile bestimmt ist.
Das ist nicht nur grundsätzlich bedauerlich. Denn in Rom, Blicke, das sei nicht verschwiegen, gibt es auch Momente großer lyrischer Schönheit, überraschende Beobachtungen, interessante Reflexionen; aber das alles hat kaum eine Chance, sich zu behaupten in dieser 450-Seiten-Pöbelei. Selbst gegenüber Frauen kann Brinkmann freundlich sein, wenn auch nur gegenüber seiner eigenen: Seine Briefe an sie sind zumeist voller Zärtlichkeit. Aber – und da meint man dann doch tiefer blicken zu können, als es all die Vulgärausdrücke zulassen – da sie ihm einen „schönen, ruhigen und überlegten Brief“ geschickt hat, schreibt er: „Das ist für mich sehr erstaunlich gewesen.“ Das könnte man tatsächlich als eine „erotische Hierarchie zu Ungunsten“ seiner Frau bewerten.
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