Es geht darum, seltener Feuerwehr zu spielen und sich mehr darum zu kümmern, warum es immer wieder brennt.« Chris Patten, EU-Kommissar für Außenbeziehungen und Großbritanniens letzter Hongkong-Gouverneur gilt als Mann der klaren Worte. »Wir müssen Wege finden, unseren immensen wirtschaftlichen Einfluss strategisch einzusetzen, wenn es darum geht, das Entstehen neuer Brände zu verhindern und zuallererst die Ursachen dafür anzugehen, dass sie immer wieder entstehen. Europa braucht nicht nur die Fähigkeit zum (militärischen) Krisenmanagement, sondern vor allem ein Politik der Vorbeugung gegen das Entstehen militärischer Konflikte.« Eine klare Warnung an die Adresse der EU. Diese bewegt sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung.
Im Jahr nach dem Kosovo-Krieg hat die Union deutlich gemacht, dass sie bei künftigen Krisen eigenständige Fähigkeiten zur politischen Entscheidungsfindung und eigene Mittel zum militärischen Krisenmanagement aufbauen will. Im Eiltempo fielen 1999 die Beschlüsse bei den EU-Gipfeln von Köln und Helsinki. Teilweise unter Rückgriff auf die WEU etabliert man politische und militärische Strukturen - ein Lagezentrum, einen Militärausschuss, einen integrierten militärischen Stab und einen politisches Gremium, um Einsatzentscheidungen zu treffen, wenn die NATO nicht aktiv werden will. Bis 2003 soll alles verfügbar sein. Beschließt die EU dann einen Einsatz, so sollen binnen zwei Monaten bis zu 60.000 Soldaten am Einsatzort sein - operationsfähig für mindestens ein Jahr. Das setzt voraus, dass die EU-Staaten zwischen 100.000 und 150.000 Soldaten dafür bereithalten. Adäquate Kräfte haben auch Luftwaffe und Marine der EU-Mitglieder zu garantieren. Ein europäisches Lufttransportkommando soll beim Beheben eines besonders dringlichen Problems helfen - der Frage: Wie gelangt alles zum Einsatzort. Javier Solana, der ehemalige NATO-Generalssekretär ist beauftragt, all dies als Hoher Repräsentant der EU und WEU-Generalsekretär zu koordinieren.
Kollektive Beistandspflicht nach NATO-Muster
Im Geschwindschritt geht es auch 2000 weiter. An Strukturen für die Teilnahme von Nicht-EU-Mitgliedern aus der NATO, aus dem Kreis der EU-Beitrittskandidaten und Osteuropa wird gearbeitet. Die Regierungskonferenz, die Struktur und Vertrag der Union auf die Erweiterung im Jahre 2003 abstimmen soll, erhielt zusätzlich den Auftrag, für die neuen politisch-militärischen Strukturen eventuell erforderliche Vertragsänderungen gleich mit zu fixieren. Bis zum Herbst haben die EU-Staaten mitzuteilen, welche militärischen Kräfte sie im Einzelnen bereitstellen wollen und können. Dann soll auch entschieden werden, ob die WEU vollständig in die EU integriert wird oder vorläufig als eigene Institution erhalten bleibt. Es gibt Pläne für europäische Aufklärungssatelliten und Befehlssysteme - schon spricht Romani Prodi, Präsident der EU-Kommission, bei einem Besuch im Baltikum davon, dass ein Angriff auf ein Mitglied der Union als Angriff auf die Union und alle ihre Mitglieder gewertet werde. Er benutzt damit jene klassische Formel, mit der in der NATO die Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung - eben die Beistands-pflicht - zum Ausdruck gebracht wird.
Viele Kenner der Union reiben sich verwundert die Augen. Als Inkarnation der Langsamkeit bekannt, bewegt sie sich in diesem Fall erstaunlich schnell. Fast scheint es, als habe die EU nur darauf gewartet, endlich auch das heikelste Thema anfassen zu können, das einem einheitlichen europäischen Staat noch bevorsteht - die Integration der Armeen, der wichtigsten verbliebenen Symbole nationalstaatlicher Souveränität im sich einigenden Europa.
Schon während der Vorbereitung auf den Gipfel in Helsinki (Dezember 1999) wurde das Missverhältnis zwischen der Stärkung ziviler und militärischer Fähigkeiten augenfällig. Die finnische Ratspräsidentschaft achtete peinlich genau darauf, die Kölner Gipfelbeschlüsse über die Stärkung des zivilen und des militärischen Krisenmanagements gleichberechtigt umzusetzen und entsprechende Beschlussvorlagen für Helsinki zu präsentieren. Doch die großen Mitgliedsstaaten lehrten ihre finnischen Kollegen schnell eine andere Sprache. Kurz vor dem Gipfel wurden eindeutige Schwerpunkte gesetzt - beim militärischen Krisenmanagement. Dem Idiom des »Europas der zwei Geschwindigkeiten« wuchs gleichsam eine neue Bedeutung zu. Während Finnland sich ernsthaft mühte, einen Aktionsplan zur Stärkung zivilen Krisen- managements in der Union auszuarbeiten, zündeten Briten, Deutsche, Franzosen und Italiener ein wahres Feuerwerk von Vorschlägen, die auf den möglichst klaren Vorrang militärischer Handlungsfähigkeit zielten. Auch eine zeitweilige Drohung Schwedens, die Vorlagen zum Krisenmanagement zu blockieren, wenn zivile und militärische Seite nicht gleichwertig behandelt würden, half nicht mehr. Der Gipfel fasste Beschlüsse, die vorzugsweise das militärische Krisenmanagement stärkten, während im zivilen Bereich viele der guten finnischen Ideen ignoriert oder verwässert wurden. Allenfalls ihre Vertagung in die portugiesische Präsidentschaft sicherte mancher dieser Ideen das Überleben - mit ungewissen Zukunftsaussichten.
Zivile Konfliktsprävention als Hinterbänkler
Die EU, der Inbegriff einer Zivilmacht, auf dem Wege zu einer Militärmacht? Europa bei seinen ersten Schritten, sich die der wirtschaftlichen Macht entsprechenden militärischen Mittel zuzulegen? Die Frage ist grundsätzlicher Natur. Welche Ausrichtung gibt die Union ihrer Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik im Prozess der Vergemeinschaftung? Orientiert sie sich an den Mustern klassischer nationalstaatlicher Machtpolitik? Entwickelt sie eine, an der Durchsetzung nationaler Interessen der EU-Mitglieder beziehungsweise an noch zu definierenden »europäischen Interessen« orientierte Politik? Geschieht dies, so muss die EU entscheiden, wie sehr sie sich bei der Ausgestaltung dieser Politik an die USA und deren Instrument der Ausgestaltung europäischer Sicherheit - die NATO - anlehnen will. US-Verteidigungsminister William Cohen hat bereits unmissverständlich zu verstehen gegeben: Eine Stärkung des europäischen militärischen Beitrags zur NATO ist hochwillkommen, der Aufbau einer Fähigkeit zu echter europäischer militärischer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der NATO dagegen wird von den USA als Kampfansage aufgenommen.
Die bisherigen Schritte der EU sind janusköpfig. Noch lassen sie sich - trotz Duplizierung bei der NATO bereits vorhandener Strukturen und künftig wohl auch militärischer Fähigkeiten - in diese mühelos einpassen oder auch als Schritte auf dem Weg zu wirklicher Eigenständigkeit betrachten. In welche Richtung der Zug fährt, entscheidet sich später. Allerdings - fährt er in Richtung NATO oder Konkurrenz zur NATO, so fährt er auf dem militärischen Gleis. Der EU steht aber auch ein anderer Weg offen. Die Union kann die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik nutzen, um eine kluge Balance nicht-militärischer und militärischer Mittel des Krisenmanagements zu suchen. Für einen solchen Weg wäre sie gut gerüstet. Als wirtschaftlich stärkste Macht der Erde, als größter Binnenmarkt, als diplomatisches Schwergewicht und als wichtigster Geber von Entwicklungshilfe besitzt sie schon heute wesentliche Instrumente der Konfliktfrühwarnung, der Prävention militärischer Konflikte und des nicht-militärischen Konfliktmanagements. Würden diese zielgerichtet ausgebaut, erweitert, auf effektive Anwendungsmöglichkeiten untersucht und mit militärischen Mitteln nur soweit abgestützt, dass ein nicht-militärisches Krisenmanagement der EU im Extremfall nicht des militärischen Schutzes der USA oder der NATO bedürfte, so könnte die Zivilmacht Europa weitgehend andere Formen des Umgangs mit regionalen Konflikten entwickeln als heute üblich.
Deren Merkmal wäre es, präventiv zu handeln, dem Ausbruch militärischer Konflikte zuvorzukommen und damit Situationen, in denen militärisches Handeln nötig werden könnte, zu verhindern. Zu einer solchen Politik würde es auch gehören, dass die EU ihre Möglichkeiten in den Dienst von UNO und OSZE stellt, indem sie beispielsweise signifikante personelle und finanzielle Ressourcen vorhält, um sich an zivilen Maßnahmen des Krisenmanagements im Rahmen oder im Auftrag von UNO oder OSZE zu beteiligen.
Die dritte Alternative - die Beibehaltung und systematische Entwicklung der EU als Akteur des ausschließlich zivilen Krisenmanagements - wird zunehmend zu einer theoretischen Option. Etlichen europäischen Regierungen scheint dies nichtsdestotrotz die eigentliche Lehre aus dem Kosovo-Krieg zu sein.
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