Das Barockstädtchen Sopron im Sommer 1989: Seit Wochen ist der kleine Ort unweit des österreichischen St. Margarethen von Hunderten DDR-Touristen bevölkert, die nur eines im Sinn haben – ihre Republik zu verlassen. Am 2. Mai 1989 hatten die Außenminister Ungarns und Österreichs vor laufenden Fernsehkameras symbolisch den Grenzzaun zwischen ihren Ländern durchschnitten. Die DDR-Bürger, die im Sommer ihren Urlaub am Neusiedlersee in Ungarn verbringen, ahnen, dass die Grenze jetzt möglicherweise durchlässig geworden ist. Einige versuchen durch das Schilfdickicht am Ufergürtel die Flucht nach Österreich. Weniger Wagemutige sammeln sich in der BRD-Botschaft in Budapest und hoffen auf eine Ausreisegenehmigung.
Am 18. August ist es dort längst zu eng geworden. In einer Kirchengemeinde im Stadtteil Zugliget ist schon ein ganzes Zeltlager errichtet. Neben mir reiht sich ein weiterer "Trabant" in die Schlange der parkenden DDR-Fahrzeuge. Eine Familie steigt aus, nimmt ihre Koffer in die Hand – der Schritt durch das Tor ist für sie der Schritt in ein neues Leben. Mal sind es 100, mal 150, die täglich kommen. Mitarbeiter der Botschaft stellen ihnen an einem Tisch unter einem Sonnenschirm die begehrten grünen Pässe der Bundesrepublik aus. Wer sind diese Menschen, die jetzt zuhauf Zugliget ansteuern?
Spontane Entscheidung
Günter (36) hatte noch keine Fluchtpläne, als er seinen Ungarnurlaub antrat. "Es ist nicht jeder zum Märtyrer geboren", sagt er. Über die grüne Grenze sich durchschlagen oder Ärger in Kauf zu nehmen wegen eines Ausreiseantrags, das liegt ihm nicht. Erst in Ungarn hat er von der Fluchtbewegung gehört. "Hier ist die Chance, ich probier's", hat er sich gesagt: So wie er haben sich rund die Hälfte der Flüchtlinge spontan entschlossen. Günters Motive: “Ich möchte besser organisiert arbeiten". Als Produktionsleiter in einem Großbetrieb habe er einen Computerlehrgang absolviert, doch ein PC sei ihm erst für 1992 zugesagt worden. Was ihn zudem ärgert, sind fehlende Reisemöglichkeiten. "Wenn meine Welt, die ich kriegen kann, von Jahr zu Jahr kleiner wird, dann ist das wie eine Schlinge, die sich langsam zuzieht".
Beatrice (23) ist die spontane Entscheidung nicht schwer gefallen. Vor fünf Jahren habe sie einen Wohnungsantrag gestellt, lebe aber noch immer im Wohnheim mit drei anderen jungen Frauen. Hartwig (41) hat seinen Schritt lange geplant. Kaum in Ungarn angekommen, versucht er vergeblich in den Westen zu kommen. “Ich war am letzten Zaun, dann war Schluss.“ Ungarische Grenzer hätten ihn mit Warnschüssen gestoppt und dann nach Budapest zur Botschaft der Bundesrepublik geschickt. Warum will er weg? "Früher hat man mal gedacht in der DDR, es geht aufwärts, Bis Ende der siebziger Jahre ging es, dann ging alles immer mehr bergab". Perspektiven sieht er in der DDR nicht mehr. Sein Wunsch: "Ich will hinfahren können, wohin ich will und wenn ich etwas kaufen will, dann nicht mit Schmiergeld".
Im Nachhinein erstaunlich: Positionen der Bürgerrechtsbewegung, die nur zwei Monate später in Leipzig Hunderttausende in ihren Montagsdemonstrationen mutig zum Ausdruck bringen, spielen bei meinen Gesprächspartnern in Ungarn – und das sind nicht wenige – keine Rolle. Hatte die DDR-Führung in den Jahren zuvor darauf gesetzt, Oppositionelle aus dem Land zu treiben, um “Druck aus dem Kassel” zu lassen, so gingen jetzt eher unpolitische DDR-Bürger, während die Oppositionellen im Lande blieben.
Im Pressezentrum der ungarischen Regierung im Stadtzentrum bekomme ich den entscheidenden Tipp: Ein Flugblatt, in dem für den nächsten Tag zu einem "Paneuropäischen Picknick" unter Schirmherrschaft von Otto von Habsburg und dem ungarischen Politbüromitglied Imre Pozsgay eingeladen wird. Die Organisatoren: Gruppierungen der ungarischen Opposition. Die ungarische Pressebetreuerin meint. “Morgen passiert etwas an der Grenze!”
Campingplätze abgeklappert
Ich komme mit Rod Nordland, dem Korrespondenten von Newsweek, in Kontakt. Er hat nicht nur das Flugblatt, er hat von ungarischen Oppositionellen den exakteren Tipp bekommen, wo der Grenzübertritt stattfinden soll. In seinem Mietwagen fahren wir die 200 Kilometer bis zur Grenze. Direkt am Grenztor halten sich ungarische Grenzer mit Stempelkissen zur Visa-Ausstellung bereit, eine österreichische Delegation der Paneuropa-Union zu empfangen. Auf der anderen Seite ein österreichischer Grenzer und eine Menge Fotografen. Kurz vor 15 Uhr öffnen die ungarischen Grenzer das Tor. Als die Delegation die Grenze passiert, rennt eine Gruppe von Flüchtlingen los. Die ersten haben deutlich Angst in ihren Gesichtern, doch kein Grenzer, nur die Pressefotografen zeigen sich interessiert. In diesen Sekunden entstehen die Fotos, die von der Bild-Zeitung unter der Schlagzeile verbreitet werden: “Verzweifelte Flüchtlinge drückten das Tor auf” – eine Legende, die bis heute gepflegt wird. Fotos, wie die ungarischen Grenzer das Tor öffnen, finden kaum Abnehmer.
Dann bleibt das Tor drei Stunden lang geöffnet. Jeder kann beliebig oft und in jede Richtung die Grenze wechseln. Hunderte DDR-Bürger spazieren gemütlich nach Österreich. Auf einem Streifen von einem Kilometer hinter dem Grenztor stehen die Filmkameras bereit. Eine Blaskapelle spielt auf, Busse stehen zum Abtransport der Flüchtlinge bereit. Wenig später erzählt mir ein Bild-Reporter, er habe bereits drei Tage zuvor mit österreichischen Stellen über diese Aktion gesprochen und in der Nacht zuvor Campingplätze in der Umgebung abgeklappert und DDR-Bürger auf die Fluchtmöglichkeit hingewiesen.
Diese Version bestätigt mir fünf Jahre später eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters im österreichischen Grenzort Mörbisch. Ja, man habe damals, als die Flüchtlinge einzeln oder in kleinen Gruppen durchs Schilf kamen, helfen wollen. Gemeinsam mit ungarischen, österreichischen und bundesdeutschen Stellen und mit Wissen und Billigung der drei Regierungen habe man in aller Schnelle die Aktion vorbereitet. Natürlich möchte ich noch einmal an das Grenztor. Auf dem Weg halten uns österreichische Soldaten auf. Nur der städtische Dienstausweis der Mitarbeiterin hilft weiter. Ansonsten kommt niemand durch. 1994 ist hier die Außengrenze der EU. Flüchtlingen wird konsequent der Weg versperrt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.