„Was schulden wir den Sinti und Roma?“

Kinderarbeit der Roma Bald verabschiedet der Senat von Berlin ein Gesetz gegen Kinderarbeit der Roma. Es ist eine Fortführung der Diskriminierung

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Im Oktober 2012 wurde in Berlin das "Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas" eingeweiht. Es ist ein wunderschönes, ergreifendes, tieftrauriges Denkmal. Ein klagender Geigenton durchzieht den kleinen Hain, der es umgibt. Der Hain machte mich stumm, als ich es besuchte. Er erinnerte mich als einen Deutschen daran, dass wir ihnen ihr Leben nahmen und es niemals zurückgeben können. Er brachte mir die Vorstellung der „Zigeuner“ meiner Kindheit zurück, als ich noch nicht ihr Schicksal kannte. Als ich sie später in Tschechien kennenlernte, traf ich auf viel Witz, Bier, selbstzerstörerische Neigungen und persönliche Nähe. Ich weiß heute auch, was die Welt und speziell Deutschland ihnen antat.

Wer das Denkmal noch nicht kennt, sollte es besuchen. Es steht im Tiergarten, unmittelbar vor dem deutschen Reichstag, der sich darüber erhebt wie eine Burg, unter deren ausdrücklichem Schutz es steht. Wer dort steht, fühlt die besondere Verantwortung, die wir Deutschen denen gegenüber haben, die keine Lobby besitzen, oder je besaßen. Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose glaubt, dass von diesem Denkmal Signale ausgehen, nicht nur der Verbrechen zu gedenken, „sondern auch die heutige Diskriminierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma besonders in Osteuropa zu ächten und zurückzuweisen“. In Mittel- und Osteuropa ist die Lage der Sinti und Roma eine von ständigen Pogromen begleitete Katastrophe. Was können wir Romani Rose hier in Berlin antworten, im Schatten der mächtigen Burg deutscher Demokratie?

Unrechte Rechtsverordnung

Im Juni erließ unser Senat eine Rechtsverordnung, die das Betteln durch Kinder oder in Begleitung von Kindern bei Strafe verbietet und in den kommenden Wochen entscheiden die Bürgermeister über seine Verabschiedung. Wie kann der Berliner Senat ein, gegen eine bestimmte ethnische Gruppe gerichtetes Gesetz erlassen? Haben die Verantwortlichen die neueste deutsche Geschichte und die Nürnberger Gesetze vergessen? Die Verordnung richtet sich nicht gegen die Bettler aus der alternativen Szene, deren Betteln um Kleingeld, Bier und Pot wir eher abenteuerlich belustigt betrachten, oder gegen unsere Obdachlosen, denen wir zu helfen versuchen. Warum erlassen wir ein Gesetz gegen die Roma als eine Gruppe, die schon ausdrücklich stigmatisiert ist und am Rand jeder europäischen Gesellschaft lebt? Die Roma erfuhren in ihrer Geschichte die längste und schwerste Verfolgung in Europa. Die aktuellen Lebensbedingungen für die meisten Roma in Osteuropa sind absolut entsetzlich, ihr Leben hat dort keinen Wert. Sie kommen seit 2009 als europäische Bürger hierher, um ihren unmenschlichen Lebensbedingungen zu entkommen. Für einige von ihnen scheint das Leben in Deutschland paradiesisch zu sein, weil sie die Öffentlichkeit nicht zu fürchten brauchen. Wir wissen nichts über ihr Leid, aber wir sind schon bereit, sie mit dem Gesetz zu bestrafen.

Der Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU) begründet das so: “Es handelt sich um eine besonders perfide Form der organisierten Kriminalität. Denn Mütter mit Kindern tun das ja nicht aus eigenem Antrieb.” (http://www.bz-berlin.de/berlin/senat-einig-bettelverbot-fuer-kinder-kommt). In ihrer angeblichen politischen Verantwortung meinen die Politiker, das Betteln von oder mit Kindern würde gegen den Schutz des Kindes vor Ausbeutung verstoßen. Die Berliner Politiker sind um das Wohlergehen der Romakinder und ihr Grundrecht, spielen und lernen zu können, besorgt. Wie machen es die besorgten Politiker den Romaeltern möglich, den Kindergarten zu bezahlen, wenn deren Einkommen aus Betteln und Saisonarbeit besteht? Im Status Report des Amaro Drom e. V. in Berlin heißt es: „Der Lohn bei Bau- und Reinigungskräften ist äußerst gering... Zwei Kinder erzählten, dass sie Pfandflaschen sammeln, um die Familie finanziell zu unterstützen. Auch Betteln wurde als Einkommensquelle genannt ...“ (http://amarodrom.de/media/bedarfsanalyse.pdf).

Romafamilienstrukturen sind sehr traditionell, mit klarer Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern und Generationen, wobei die Kinder immer bei ihren Müttern bleiben und es immer die Frauen sind, die betteln. Diese Einkommensquelle zu kriminalisieren, würde die Lebensbedingungen der Kinder radikal verschlechtern, von denen die Gesetzgeber behaupten, sie verbessern zu wollen. Das Gesetz wird die Romakinder nicht schützen – sie werden nicht auf Spielplätzen spielen, sondern werden so hungrig, schlecht gekleidet und barfuß sein, wie auf den ikonographischen Fotos aus Osteuropa. Das Gesetz würde nur Sinn ergeben, wenn die lokale Politik den Roma helfen würde, Jobs und bezahlbare Unterkünfte zu finden. Andererseits darf es nicht verabschiedet werden.

Politik und Medien in „Zusammenarbeit“

Wie politisch verantwortlich ist es, ein Gesetz speziell gegen eine Gruppe zu verabschieden, über die die Gesetzgeber alarmierend wenig wissen? Informieren sich unsere Politiker nur dort, wo wir uns alle zuerst informieren - in den Medien? In den meisten deutschen Medien sind die Roma durch bekannte Ressentiments und Stereotypen porträtiert, indem die Medien die türkische Mafia der „Dönermorde“ von vor zehn Jahren durch die Bettelmafia der Roma von heute ersetzen. Medien und Politiker versprachen damals, nie wieder aufgrund von Vorurteilen zu diffamieren und kriminalisieren. Haben sie ganz einfach ihre Verpflichtung vergessen?

Wir alle wissen, dass der Begriff „Mafia“ jenes organisierte Verbrechen bezeichnet, welches nach staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen ausgreift, um sie zu kontrollieren. Ihren stigmatisierten Status bedenkend, ist der Zugang der Roma-Bettelmafia zu solchen Machtnetzwerken vollkommen absurd. Sie üben keinen finanziellen Einfluss auf deutsche Politik aus, veranlassen keine Auftragsmorde, waschen kein Geld, investieren nicht in Waffen-, Drogen-, Kinder-, oder Organhandel. Die deutschen Medien ignorieren diese Tatsachen unverfroren und fahren fort, zu hetzen.

Zweifellos ist der Lebensstil vieler Roma nicht einfach zu verstehen, oder zu integrieren, aber wir brauchen ihn nicht zu begrüßen, sondern zu tolerieren. Es ist schwierig vorstellbar, dass unsere Leitkultur nicht in der Lage ist, die zwischenmenschlichen Probleme mit ein paar tausend Roma zu regeln. Unsere Medien beschreiben Roma als eine Bedrohung und ignorieren abermals Tatsachen. Während ihrer ganzen Geschichte der Koexistenz in Europa, verfolgten, bedrohten, dominierten, oder vernichteten die Roma niemals eine andere Gruppe, oder führten Kriege bzw. Verteidigungskriege gegen sie. Im Gegenteil, sie waren immer unterdrückt und dort gefährdet, wo sie am verletzbarsten sind. Zuletzt durch die Familienpolitik der kommunistischen Regimes, welche unter Umständen erbarmungslos die Kinder von ihren Eltern trennten. Die allerletzte Erfahrung machten sie im Berliner Görlitzer Park, als ihnen die Polizei vor dem Vertreiben, mit der Wegnahme ihrer Kinder drohte. Was sonst hätten sie ihnen wegnehmen sollen? Sie besitzen nichts, außer, was sie auf dem Körper und in der Hand tragen.

Die Debatte um das kommende Gesetz ist umhüllt von der Rhetorik über Kinderrechte und den Schutz vor Kinderarbeit, während das Gesetz in Wirklichkeit darauf zielt, die Roma aus Berlin zu vertreiben. Die Medien kreieren eine gesellschaftliche Atmosphäre, die es erlaubt, zynisch über das Elend anderer zu reden und ihnen ihr Leiden zu ihrem Nachteil zu verübeln. (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/roma-clans-elend-als-geschaeftsmodell-12092059.html). Die Berliner Politik nutzt dankbar diese Atmosphäre und die Sprache der Medien, die nicht weit von der in den 30er Jahren entfernt ist, um die rauszuwerfen, denen wir mit dem Denkmal Schutz versprechen. Wie verstehen wir die Botschaft des Denkmals, wenn wir ein Gesetz erlassen, das diejenigen vertreibt, deren Leiden wir nie vergessen wollten?

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