Ja, das Buch, das Götz Aly im März 2005 vorlegte - er nannte es: Hitlers Volksstaat - war eine Tat. Es zeigt, wie willig Deutsche das Eigentum ihrer jüdischen Mitbürger verwerteten, wie gierig deutsche Soldaten Europa ausplünderten und - selbst Heinrich Böll machte mit - dicke Fresspakete nach Hause schickten. Und wie sich die Deutschen ihren Krieg gegen die ganze Welt aus den von ihnen besetzten Gebieten finanzieren ließen.
Vor 23 Jahren hat Götz Aly zusammen mit Karl Heinz Roth sein erstes Buch veröffentlicht: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Das gemeinsame Bändchen trug damals wesentlich zum Widerstand gegen die versuchte Volkszählung des CSU-Innenministers Friedrich Zimmermann bei. Doch jetzt warnt die von Karl Heinz Roth herausgegebene Zeitschrift Sozial.Geschichte vor gefährlichen und vom Autor durchaus nicht unbeabsichtigten Nebenwirkungen des neuen Aly-Buches. Es dient der - seit Jahrtausendbeginn auf der Agenda stehenden - Demontage des Sozialstaates, dessen Ursprünge Aly ebenso nebenbei wie umfassend im Nationalsozialismus entdeckt. Zusammen mit der Mitherausgeberin Angelika Ebbinghaus haben fünf Historiker in sechs Aufsätzen die verschiedenen Aspekte von Alys Schlussfolgerungen aus dem Arsenal des NS-Staates für die Gegenwart untersucht.
Der Kontext, den Angelika Ebbinghaus immer wieder in Alys Buch entdeckt, seine"zentrale Botschaft", laute: Die soziale Besserstellung der "kleinen Leute" sei mit Verbrechen und Vorteilsnahmen im großen Stil erkauft. Tatsächlich nimmt Aly den Nazi-Namensbestandteil "Sozialismus" ernst, indem er behauptet, die Lasten des Krieges hätte nicht der kleine Mann, sondern - soweit Deutsche gefordert waren - die besitzende Klasse tragen müssen. Der "nationale Sozialismus" habe für "ein in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Maß an Gleichheit und sozialer Aufwärtsmobilisierung" gesorgt - dies allerdings auf der "Basis eines umfassenden Raub- und Rassenkrieges". Richtig, doch auf diese Basis, das ignoriert Aly, setzte sich der Überbau der eigentlichen Kriegsgewinnler - über das Intermezzo von 1945, der vermeintlichen Stunde Null, hinaus.
Vertrauen in das "Regime der sozialen Wärme"
Der Berliner Historiker Rüdiger Hachtmann zeigt, wie sehr sich Hans-Ulrich Wehler und Götz Aly, die sich öffentlich Schaukämpfe liefern, in ihrer Polemik gegen die "kleinen Leute" und ihrer Entlastung der herrschenden Klassen einig sind. Und wie wohl fühlten die sich unter der NS-Diktatur! 1936 waren - unterstreicht Aly - "nur noch 4.761 Häftlinge eingesperrt", einschließlich der - diese Gelegenheit zum Diffamieren des politischen Widerstands lässt er nicht aus - "Alkoholkranken und Kriminellen". 1936 war - daran erinnert Hachtmann - das Jahr der Olympischen Spiele, in dem sich das Naziregime vor aller Welt im besten Licht darstellen wollte, sogar der Antisemitismus wurde damals an die Leine gelegt. Danach, 1937, füllten sich die Konzentrationslager - Buchenwald und Sachsenhausen wurden neu errichtet.
Hachtmann gesteht Aly durchaus zu, wie sehr das "Raubtierverhalten" auch der "einfachen Leute" bedient wurde, ihre "Gier", zu günstigen Konditionen die "Länder Europas buchstäblich leer zu kaufen". Deswegen aber von einem "nationalen Sozialismus" zu sprechen, das zeugt von einem hochentwickelten Sinn für Zynismus: Der Hitler-Staat - daran lässt Aly keinen Zweifel - war eine "Diktatur für das Proletariat", in der sich der "kleine Mann" wohlfühlen konnte.
Hachtmann rechnet nach: Auf rund 50 Seiten lasse sich der Autor über "Steuervergünstigungen" der Nazis für "einfache Leute" aus, nur in fünf Zeilen aber behandele er die tatsächliche Lohn- und Einkommensentwicklung: Ein Maurer etwa, der 1929 149 Reichspfennige pro Stunde verdiente, bekam 1938 nur noch 86 Reichspfennige.
Aly interpretiert stattdessen das Ansteigen der Sparquote während des Krieges als Ansteigen des Wohlstandes und Ausdruck zunehmenden Vertrauens in das "Regime der sozialen Wärme". So hätten 95 Prozent der Deutschen die NS-Diktatur empfunden. Eine von 1939 bis 1941 verdreifachte Sparquote war für Aly die "Folge eines Grundvertrauens in die Führungskunst Hitlers". Das Sparen sollte "aus der Sicht mancher Nazistrategen" nach dem Sieg der "künftig besser ausgewogenen Vermögensstruktur" dienen und die "Verwirklichung einer wahrhaft sozialistischen Vermögensordnung" befördern, das kann Aly belegen. Nur sind seine Quellen dünne Rinnsale. Da hat er doch tatsächlich in der Berliner Staatsbibliothek die Dissertation eines Göttinger Studenten namens Harry Bark gefunden, der 1941 schrieb, das "freiwillige Sparen" werde nach dem Sieg die "Verwirklichung einer wahrhaft sozialistischen Vermögensordnung" befördern. Für Aly ist die Sicht dieses "Nazistrategen" der Beweis: "Auch darin bestätigt sich die Tendenz des NS-Staats zum sozialen Ausgleich innerhalb der deutschen Gesellschaft."
Andererseits aber weigerte sich Hitler strikt, öffentliche Kriegsanleihen aufzulegen - aus Furcht, eine allzu geringe Zeichnung solcher Anleihen würde zu einer Volksabstimmung gegen den Krieg. Er zog die geräuschlose Finanzierung vor: Aus den Sparbüchern wurden Schuldpapiere des Reiches. Es gab wenig zu kaufen, und so war das Einkommen der Volksgenossen auf die Sparbücher verlagert. Diese Gelder flossen, wie auch Aly einräumt, kontinuierlich in die Reichshauptkasse und wurden für die Rüstung "verpulvert".
"Nicht länger auf Großbanken und Konzerne starren"
Im kritischen Aly-Heft der Sozial.Geschichte weist der Mannheimer Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim darauf hin, dass die Sparer nach dem Krieg zahlten - mit der Währungsreform: Sachvermögen blieb erhalten, und selbst die Demontage sorgte für Innovation. Das Sparvermögen aber wurde auf Minimalbeträge zusammengestrichen. Eine fünfköpfige Familie, die 10.000 RM gespart hatte, bekam mit der Währungsreform gerade einmal, und das war schon viel, zusammen 438 DM - und das in Raten. Den Aktiengesellschaften hingegen blieb das Eigenkapital in der Regel erhalten.
Buchheim und auch der Berliner Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski entdecken bei Aly viele Rechenfehler, die ihm eine profunde Basis für eine wissenschaftliche Analyse entziehen. Sie erkennen allerdings an, dass es durchaus reiche für polemische Ausfälle gegen den Sozialstaat und alles, was nach Alys Meinung etwas mit Sozialismus zu tun haben könnte. Angelika Ebbinghaus führt dies auf Alys Herkunft "aus der rigiden Tradition der K-Gruppen" zurück. Und der Hamburger Historiker Michael Wildt wirft Aly vor, dass er seine Thesen mit "griffigen Formulierungen" wie "Wohlfühl-Diktatur" für den Nazistaat allzu sehr auf die Bedürfnisse der Medienöffentlichkeit hin geschrieben habe.
Tatsächlich bediente er bei Erscheinen seines Buches ganz bestimmte Medieninteressen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um Hartz IV konnten führende neoliberale Organe mit Alys Thesen aufwarten. Für die Zeit offenbarte Aly "in der Struktur der nationalsozialistischen Steuer- und Sozialpolitik ein linkssozialdemokratisches Grundmuster" - Hitler und Goebbels als Vorgänger von Lafontaine und Gysi? In einem eigenen Spiegel-Artikel entwickelte Aly seinen rigorosen Abwehrzauber: Man solle, verlangt er dort, "nicht länger auf Großbanken und Konzerne starren", wenn man die verbrecherische Dynamik des Nationalsozialismus verstehen wolle. In seiner "kriegssozialistischen Umverteilungsgemeinschaft" sei, vermeldet Aly den Spiegel-Lesern, Hitler "mit den Reichen und den Unternehmen" weit "weniger zartfühlend" umgegangen als mit den "gehätschelten Volksgenossen".
Dass die Nazis eigentlich Sozialisten waren, ist nicht Alys Entdeckung. Als sein Buch erschien, war es gerade einmal ein gutes Vierteljahrhundert her, dass Kanzler-Kandidat Franz-Josef Strauß im Mittelmeer beim Bräunen auf dem Sonnendeck von Friedrich Karl Flicks Luxus-Yacht entdeckte, dass die "Schwungmasse", die Hitler an die Macht brachte, nicht vom Bürgertum, sondern von den verzweifelten Sozialisten gekommen sei, die den Sozialdemokraten in Massen davonliefen. Was dann sein damaliger Generalsekretär Edmund Stoiber im Interview mit der Frankfurter Rundschau auf die Formel brachte, dass die "Nationalsozialisten in erster Linie Sozialisten waren". Strauß verkündete danach, im September 1979 auf dem CSU-Parteitag, dass der Nationalsozialismus schließlich auch nur "eine Variante des Sozialismus" war. "Sowohl Hitler wie Goebbels waren im Grunde ihres Herzens Marxisten."
Und umgekehrt. Alfred Sauter, der damalige Vorsitzende der Jungen Union, durfte im Bayernkurier erläutern, dass die Jungsozialisten (SPD), die Jungdemokraten (FDP) "und andere Kommunisten" die "einzigen und wirklichen Faschisten unserer Tage" sind, womit wir wieder in der Zukunft angekommen sind - Alys "linkssozialdemokratisches Grundmuster" der NS-Sozialpolitik.
Für Götz Aly bedurfte es keiner Vergnügungsreise auf der Flick-Yacht, damit er zu seinen Erkenntnissen kam. Ihn trug sein Gewissen, sein natürliches Gerechtigkeitsgefühl. Warum er sein Buch ausgerechnet in einer Zeit schrieb, in der die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter "eines der großen Themen war", das erläuterte er der Welt. Ihn störte daran "das einseitige Abschieben der Schuld auf die deutsche Industrie, auf Banken, Lebensversicherungen usw."
Wird man die Revolution von 1789 zurücknehmen müssen?
Gewiss, es war notwendig und richtig, dass Aly herausarbeitete, wie sehr auch die "einfachen Volksgenossen" vom Raubmord an den Juden und von der Plünderung des besetzten Europa profitierten. Aber am Ende des Buches steht Alys Satz: "Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen." Die Welt erkannte, was das bedeutet: "Damit wischen Sie die berühmte Sentenz Horkheimers weg, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, vom Faschismus schweigen solle."
Aly widersprach nicht, differenzierte nicht, sondern antwortete mit einem umfassenden und bisher wenig beachteten Geständnis: "Ja, dann bin ich bei Nolte, was die Großperspektive angeht." - Bei Ernst Nolte, der vor 20 Jahren den Historikerstreit entfachte und verlor mit seiner These, dass Hitler nur eine "asiatische Tat" vollbracht habe, dass der Archipel GULag ursprünglicher als Auschwitz sei, mithin die Todesfabrik eine Erfindung Stalins und seiner - natürlich - jüdisch-bolschewistischen Kommissare.
Ganz so wie Nolte will es Aly allerdings nicht sagen. Er formuliert es etwas weniger auffällig: "Der Holocaust gehört - zumindest auch - in den Kontext der ungeheuren sozialen Mobilisierung seit dem Ersten Weltkrieg." Und die ging bekanntlich 1917 von der bolschewistischen Revolution aus. Aly: "Auschwitz ist der extremste Fall der damit verbundenen politischen Entwürfe. Das Konzept, soziale Fortschritte, also das Gewinnen von mehr Gleichheit, auf Kosten Dritter zu erzielen, war nichts spezifisch Deutsches." Soweit Alys Botschaft: Wer mehr Gleichheit auf Kosten anderer, etwa der Banken, der Industrie anstrebt wie die einst auf Kosten des Adels und des Klerus - nimmt der letztlich Auschwitz in Kauf? Da werden wir wohl die Französische Revolution von 1789 endlich zurücknehmen müssen.
Die dreimal jährlich erscheinende Zeitschrift Sozial.Geschichte erscheint im Peter Lang Verlag Bern / Frankfurt und kostet 13,30 EUR
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