Die Kirchhof-Blase ist geplatzt. Angela Merkels Schattenfinanzminister steht unter Quarantäne, weil er zu viel verraten hat. Während die Zeit am Donnerstag noch jubilierte: "Paul Kirchhof elektrisiert die Republik", meldete Spiegel-online am Samstag den Kurzschluss: Die Liste der 412 Steuervergünstigungen, die gestrichen werden sollen, damit die Steuer für die Reichen auf 25 Prozent gesenkt werden kann, sie bleibt geheim. Grund: Die Union fürchtet eine "Wutwelle", schließlich gehören zu den geplanten Streichungen auch Lohnsteuervergünstigungen für Nachtarbeiter.
Ein Ohrfeige für Merkels designierten Minister: Professor Kirchhof, der den Sozialstaat als "Umverteilungsagentur" bekämpft, hat klare Grundsätze, die der Kanzlerkandidatin bekannt gewesen sein mussten. "Das Gesetz in seiner großen Weisheit verbietet es Armen und Reichen gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen." Diesen erhabenen Zynismus von Anatole France hat Kirchhof fortentwickelt zum Prinzip jeglicher Steuergesetzgebung. Er formulierte es nur anders. Denn der Professor hat erkannt, dass der Reiche, wenn er keinen Bock darauf hat, nicht unter Brücken schlafen muss. Und darauf legt Kirchhof Wert: "Freiheit heißt, dass der eine sich vom anderen unterscheiden darf und dass er, wenn es Unterschiede gibt, diese Unterschiede mehren darf."
So erläuterte er es schon im Mai 2002 in einem Probelauf vor der Industrie- und Handelskammer Heilbronn-Franken, um es dann im Dezember gleichen Jahres in Berlin vor der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung - einer unserer radikalsten Deregulierungsagenturen - endgültig zu verkünden. Das war schon damals eine exakte Vorwegnahme seines 25-Prozent-Steuersatzes für Arbeiter wie Milliardäre. So wie er es 2002 theoretisch ("Die Steuerlast soll gleichmäßig werden") angekündigt hatte.
Jetzt da Kirchhofs "Visionen" - so Angela Merkel - zusammen mit der angedrohten Mehrwertsteuer-Erhöhung Schrecken unter der Wählerschaft verbreiten, bleiben seine Pläne ein Geheimpapier. "Visionen", das könnte die Kandidatin im Duden-Wörterbuch nachlesen, sind "optische Halluzinationen" und wahlweise "übernatürliche Erscheinung[en] als religiöse Erfahrung" - als Beispiel bietet das Nachschlagewerk die Apokalypse an.
Kellner Kirchhof musste daher schleunigst durch den Koch ersetzt werden. Es erscheint als Angela Merkels oberster Wirtschaftsberater Heinrich von Pierer, bis zur Jahreswende Vorstandsvorsitzender und nunmehr Aufsichtsratschef des Siemens-Konzerns. Der Einstandspreis, den Merkel willig zahlt: "Wir werden auch eine Neubewertung der Kernenergie vornehmen müssen". So sagte es Pierer dem Handelsblatt. Die Laufzeit der Kernkraftwerke muss auf hochgefährliche 60 Jahre verlängert werden - eine gewaltige Profitausweitung für Siemens.
Eigentlich wäre Pierer gern Bundespräsident geworden, doch Merkel musste sich für Horst Köhler entscheiden, den Westerwelle-Kandidaten. Pierer, der einst 18 Jahre lang als CSU-Mitglied im Rat der Stadt Erlangen saß, hat seit 1998 aus Einsicht den Genossen der Bosse unterstützt. Doch jetzt ist Schröder ausgelutscht. Auch ist von seiner Partei so wenig übrig geblieben, dass sie aus nackter Verzweiflung wieder nach links rutschen könnte. Der Wechsel zur sicheren Wahlsiegerin Merkel ist deshalb geboten. Weil aber der Siemens-Mann Ethik als "Chefsache" betrachtet, bekommt Schröder ein Gnadenbrot. Er darf vorerst weiter mit ihm Tennis spielen.
Im April 2004 konnte Pierer durch Vermittlung der Regierung Schröder die Wünsche des Siemenskonzerns weltweit verbreiten. Erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen sprach der Oberkommandierende eines Weltkonzerns vor dem Sicherheitsrat. Der deutsche UN-Botschafter Gunter Pleuger hatte gerade den Vorsitz. Der Siemens-Boss meldete dabei seine Wünsche für Afghanistan an ("Unsere Grundphilosophie lautet: Wir sind hier, um zu bleiben"), auch für den Irak, dessen Ausbeutung die USA lieber ihren eignen Firmen vorbehalten.
Seit Pierer 1992 Vorstandsvorsitzender wurde, hielt er es trotz Pfusch und Korruption im Konzern stets mit der Moral: "Leider ist in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck entstanden, die auf Shareholder Value getrimmte Welt der Manager führe zum Verlust tradierter Werte." Gefördert werde dieser Eindruck durch "die bekannten Fälle, in denen das persönliche Einkommen - abhängig von der Performance ihrer Unternehmer extreme Größenordnungen erreichte." Doch diese wenigen zweifelhaften Fälle sollten nicht den Blick dafür trüben, dass die Höhe der Bezüge bei der weit überwiegenden Zahl der Unternehmen "nicht jenseits von Gut und Böse" liege. So schrieb er es 2003 in dem Buch Zwischen Profit und Moral. 2004 meldete das manager-magazin: "Mit 4,6 Millionen Euro liegt der scheidende Vorstandschef Heinrich von Pierer weit oben in der deutschen Rangliste."
Er versuchte, sich selbst - so lange es ging - die Hände nicht schmutzig zu machen. Er delegierte. Die FAZ über den schließlich gefeuerten Ulrich Schumacher, der die Konzern-Tochter Infineon leitete: "Regelmäßig hatte der Infineon-Chef die Betriebsräte gereizt. Mit seinem Vorhaben, jedes Jahr die low performer im Konzern auszusortieren. Mit der Ankündigung, Produktionsstätten verstärkt ins Ausland zu verlagern. Mit der Drohung, den Firmensitz in die Schweiz zu verlagern." - Die Drohungen waren abgesprochen, die FAZ: "Schumacher habe dabei mit der Rückendeckung von Siemens-Chef Heinrich von Pierer gehandelt, sagen seine Vertrauten bis heute. Er sei vorgeschickt worden, um im Auftrag Pierers mit provokanten Thesen die Stimmung in Deutschland zu testen. Und er hat sich dabei verschätzt."
Jetzt spricht der Chef als Angela Merkels Leitwolf selbst zum deutschen Volk. Und er verschätzt sich nicht.
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