Der Reichstag brennt noch immer

Das Alleintäter-Dogma Wie das Münchner Institut die Zeitgeschichte fabriziert

Ich saß da, hoffnungslos blamiert, damals vor zwei Jahren auf der Jahrestagung des deutschen PEN in Schwerin. Eine einzige Hand hob sich für den Initiativantrag, es war, wie ich mich zweifelsfrei überzeugen konnte, meine eigene. Nicht einmal die neun anderen anwesenden PEN-Mitglieder, die mit mir unterschrieben hatten, wollten sich länger zu dem Antrag bekennen.

Zum 70. Jahrestag der Bücherverbrennung sollte damals der deutsche Zweig der internationalen Schriftstellervereinigung die Initiative zu einem Kongress ergreifen, der Gegnern und Anhängern der These von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ein Forum biete, sich mit ihren Thesen auseinander zu setzen. In der Nacht des Reichstagsbrandes waren schließlich auch viele Schriftsteller, deren Bücher bald darauf von deutschen Studenten und Professoren verbrannt wurden, ins Gefängnis und später in für viele todbringende Konzentrationslager verbracht worden - Carl von Ossietzky zuallererst.

PEN-Generalsekretär Wilfried F. Schoeller hatte die überzeugende Gegenrede gehalten: Der Reichtagsbrand ist Geschichte, sie zu beschreiben Sache der Historiker. Wir haben damit nichts zu tun. Marinus van der Lubbe war der Alleintäter, wenn es anders wäre, hätten die alerten Junghistoriker längst rebelliert. So seine Argumente, die ihre Wirkung nicht verfehlten.

Gesinnungsmäßige Hemmungen

Das Reichsgericht in Leipzig hatte in seinem Urteil vom Dezember 1933 festgestellt, was damals kaum einer in Frage stellte: "Es kann nach Ansicht des Senats keinem Zweifel unterliegen, daß die Tätigkeit van der Lubbes im Reichstag im bewußten und gewollten Zusammenwirken mit dem oder den Mittätern erfolgt ist, die im Plenarsaal den Brand vorbereitet und die Selbstentzündung angelegt haben." Welche Aufgabe Marinus van der Lubbe dabei zukam, sprach der Senat des Reichsgerichts auch aus: "Die Rolle, die dem Angeklagten van der Lubbe bei der Inbrandsetzung des Reichstags zugedacht war, war offenbar die, den Verdacht der Täterschaft, und zwar einer Alleintäterschaft auf sich zu lenken."

Wer aber als Lenker auf keinen Fall in Betracht kommen durfte, stand für die Leipziger Richter ebenso fest: Nicht die NSDAP, denn die "gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei schließen derartige verbrecherische Handlungen, wie sie ihr von gesinnungslosen Hetzern zugeschrieben werden, von vornherein aus."

Über den moralischen Standard der NSDAP haben sich inzwischen etwas andere Urteile verbreitet. Aber die Alleintäterschaft van der Lubbes gilt seit über vier Jahrzehnten - seit den Forschungen des Verfassungsschutzangestellten Fritz Tobias und des damals noch jungen Historikers Hans Mommsen - als erwiesen.

Vergangenen Monat erschien nun im Deutschen Taschenbuch Verlag der erste Band von Richard J. Evans´ monumentalem Dreiteiler Das Dritte Reich mit der eindeutigen Feststellung: "Bislang ist die Schlussfolgerung von Tobias und Mommsen, dass van der Lubbe der alleinige Täter war, nicht erschüttert." Und 2004 kam Hans-Ulrich Wehler im vierten Band seiner maßgebenden Deutschen Gesellschaftsgeschichte (C. H. Beck Verlag) zu dem zweifelsfreien Befund: "Die erst spät (1962) einsetzende erregte Forschungskontroverse über den Initiator: hier den holländischen Anarchosozialisten Marinus van der Lubbe, dort braune Brandstifter, ist bisher mit hinreichender Klarheit zugunsten der Alleintäterschaft van der Lubbes entschieden worden."

2002 schließlich schrieb Ian Kershaw wiederum im Deutschen Taschenbuch Verlag in seiner erstmals 1998 erschienenen Hitler-Biographie: "Das überzeugende Ergebnis der ausführlichen Untersuchung von Fritz Tobias, dass Marinus van der Lubbe alleine handelte, wurde von Hans Mommsens wissenschaftlicher Analyse bestätigt und wird in Historikerkreisen weitgehend akzeptiert."

So gesehen hat sich bewahrheitet, was PEN-Mitglied Rudolf Augstein am Ende einer langen Spiegel-Serie schon 1959 verkündete: "Über den Reichstagsbrand wird nach dieser Spiegel-Serie nicht mehr gestritten werden. Es bleibt nicht der Schatten eines Beleges, um den Glauben an die Mittäterschaft der Nazi-Führer lebendig zu erhalten." Diese Serie beruhte auf den Forschungen von Fritz Tobias. Erarbeitet hatte er sie zusammen mit einem Kollegen, dem Leiter des Kripo-Referats im niedersächsischen Innenministerium Fritz Zirpins, der seinerzeit van der Lubbe nach seiner Festnahme verhört hatte, und zwar so erfolgreich, dass er zum Stabsführer der Führerschule der Sicherheitspolizei aufstieg. Später wurde er vom Reichssicherheitshauptamt als Kripochef nach Lodz delegiert, wo er sich - wieder erfolgreich - mit dem Raub jüdischen Vermögens betätigte. Später stand er - erfolglos - auf der polnischen Kriegsverbrecherliste.

Zirpins guter Kontakt zu Rudolf Augstein war für die Spiegel-Serie nützlich. Im Haus selbst wurde sie zuallererst von SS-Obersturmbannführer a. D. Paul Karl Schmidt bearbeitet, dem früheren Sprecher des Auswärtigen Amtes, der 1944 angeregt hatte, man möge doch, bevor man die Juden von Budapest nach Auschwitz deportiere, Sprengstofffunde in den Synagogen veranlassen.

Eine unerwünschte Expertise

So wurde die Serie im Spiegel ein großer Erfolg. Doch im Münchner Institut für Zeitgeschichte regte sich zunächst Widerstand. Dessen Leiter Hans Krausnick beauftragte einen Mitarbeiter, den Stuttgarter Studienrat Hans Schneider, mit einer Expertise über "den wahren Stand der Forschung in Sachen Reichstagsbrand". Dagegen eröffnete die Springer-Illustrierte Kristall Störfeuer. Verständlich, deren Hauptautor war inzwischen Paul Karl Schmidt, der zuvor beim Spiegel den Reichtagsbrand bearbeitet hatte und nun unter dem Namen Paul Carell Landserserien schrieb, versehen mit dem Tenor, die Generäle hätten den Krieg gegen die Russen schon gewonnen, wären sie nicht ständig Hitlers Einmischung ausgesetzt gewesen.

Nach langem Hin und Her knickte Institutsleiter Krausnick schließlich ein. Da man "eine Stellungnahme als Institut für Zeitgeschichte in Sachen Reichstagsbrand öffentlich angekündigt" habe, so eröffnete er Hans Schneider laut Aktennotiz vom 10. November 1962, sei man "außerstande, ein Ergebnis zu veröffentlichen", dass man "nicht voll vertreten" könne.

Das nicht vertretbare Ergebnis: Schneider hatte Punkt für Punkt nachgewiesen, wo Tobias im Spiegel und in der folgenden Buchveröffentlichung die Vernehmungs- und Gerichtsprotokolle falsch zitierte, ja in ihr Gegenteil verkehrte, um eine Alleinschuld van der Lubbes zu beweisen.

Doch in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte durfte Schneider seine Spiegel-Widerlegung nicht veröffentlichen. Stattdessen war es der junge Institutsangestellte Hans Mommsen, der dort einen Aufsatz schrieb. Ohne genaue Prüfung der Akten bestätigte er voll den Spiegel und Tobias. Sein zeitgeschichtlich abgesegneter Aufsatz wurde bald auch von der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland übernommen. Zuvor hatte der Institutsangestellte Mommsen sein Gesellenstück für Zeitgeschichte abgeliefert: Eine Expertise nämlich, wie man Schneider daran hindern könne, anderswo seine Erkenntnisse zu publizieren. Mommsen nahm Rücksprache mit dem Rechtsanwalt des Hauses und kam in einer Aktennotiz zunächst zu dem Schluss: "Nach der derzeitigen Rechtslage ist das Institut formell nicht in der Lage, von dem mit Schneider geschlossenen Vertrag zurückzutreten." Er könne zwar eine Instituts-Publikation ablehnen, aber nicht verhindern, dass Schneider in eigenem Namen sein Manuskript veröffentliche.

Nach dem Urheberrecht könne man, sorgte sich Mommsen weiter, auch nicht darauf bestehen, dass Schneider die ihm vom Institut zur Verfügung gestellten Quellen nicht benutzen dürfe. Das sei "rechtlich aussichtslos". Doch er sah einen Weg, den juristisch unberatenen Schneider einzuschüchtern, nämlich: "rasch und energisch alle Druckmittel, die in unmittelbarer Verfügung des Instituts stehen, auch da, wo sie einer endgültigen juristischen Prüfung nicht standhalten, auszuspielen, um Herrn Schneider daran zu hindern, Zeitgewinn zu haben, sowohl hinsichtlich der Verhandlungen über eine anderweitige Publikation als auch hinsichtlich der Verarbeitung des ihm einstweilen noch zur Verfügung stehenden Quellenmaterials." Auch könne man "Herrn Schneider durch eine sofortige Zurückforderung des gesamten Materials mattsetzen". Schließlich habe - so Mommsen weiter - das Institut ein Interesse, "die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern", da "aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht scheint".

Über die "allgemeinpolitischen Gründe" darf, nein, muss man rätseln, Mommsen hat sie auf Fragen hin nie erläutert. War Theodor Maunz ein solcher Grund? Der Alt-Nazi und damalige bayerische Kultusminister, der schon einmal dem Münchner Institut Besuche abstattete? In der neonazistischen Deutschen National-Zeitung, die von Maunz heimlich juristisch beraten wurde, hatte Fritz Tobias, der Verfassungsschutzmann, ein Interview gegeben, woraufhin das Blatt dessen Forschungsergebnisse bejubelte.

Oder dachte er an die damals ebenfalls für das Institut für Zeitgeschichte zuständige baden-württembergische Staatsregierung? Sie wurde von Kurt Georg Kiesinger geführt, dem ehemaligen Verbindungsmann zwischen Goebbels und Ribbentrop zur Abstimmung der Auslandspropaganda (Spezialgebiet: Nachrichtenfälschung), und sie war auch gemeint, als Mommsen empfahl, erst einmal "zurückhaltend Herrn Schneider an den Vertrag weiter zu binden und währenddessen über Stuttgart zu arbeiten, um eine größere Vergleichsbereitschaft zu erzielen." "Stuttgart", das war die baden-württembergische Regierung, der Schneider als Studienrat unterstand.

Wie auch immer - es funktionierte. Institutschef Helmut Krausnick (CSU) schickte am 30. November 1962 nach Mommsens Ratschlag Schneider einen Brief voll versteckter Hinweise und offener Drohungen: "Ihre Vorstellung, daß das Institut jemals seine Einwilligung dazu geben würde, daß Sie ein großenteils auf im Eigentum des Instituts befindliches oder mit Hilfe des Instituts gewonnenes Material gestütztes Manuskript (ob mit oder ohne Nennung des Instituts) veröffentlichen können, ist irrig." Schneider dürfe sich zwar "gelegentlich publizistisch zu dem Reichstagsbrandproblem" äußern. Jedoch - und hier spricht nicht die Camorra, sondern das Institut für Zeitgeschichte - "machen wir Sie darauf aufmerksam, daß Sie dafür keineswegs die von Seiten oder durch Vermittlung des Instituts zur Verfügung gestellten Materialien auszugsweise zitieren oder mit Angabe der Fundstelle benutzen können."

Der PEN mischt sich nicht ein

Schneider, so erpresst, veröffentlicht sein Manuskript nicht und stirbt 1994 nach langer Krankheit. Zur Jahreswende 2004/2005 hat nun der Berliner Wissenschaftsverlag in seiner von der Vereinigung deutscher Wissenschaftler herausgegebenen Reihe Wissenschaft in der Verantwortung Schneiders unerwünschte Expertise publiziert unter dem Titel Neues vom Reichstagsbrand? Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung - mit Beiträgen von Hersch Fischler, der Mommsens Aktennotizen im Institut für Zeitgeschichte entdeckte, Dieter Deisenroth, Wolf-Dieter Narr, eingeleitet von Irving Fetscher. Noch ist die Debatte darüber so verhalten, als sei das Buch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschienen.

Hans Mommsen, zwischenzeitlich emeritiert, amtiert immer noch als Doyen der deutschen Zeitgeschichte und als Garant für die Nazi-Unschuld am Reichstagsbrand. In seiner ehemaligen Wirkungsstätte Bochum hält der deutsche PEN in dieser Woche seine Jahrestagung ab. Von ihm hat weder Mommsen noch das Institut für Zeitgeschichte irgend etwas zu befürchten - er mischt sich da nicht ein.

Die Verhaftungsliste, auf der neben Hunderten von anderen Verdächtigen Carl von Ossietzky und viele deutsche Schriftsteller standen, wurde vom Leiter der Preußischen Staatspolizei, dem späteren Gestapochef Rudolf Diels, an die Polizeistationen abgeschickt, sechs Stunden bevor der Reichstag brannte. Aber das sind so Mirakel, für die nur Historiker und keine Schriftsteller zuständig sind. Indes: Nächstes Jahr im Mai tagt in Berlin, am Ort des Reichstagsbrands, der Internationale PEN. Ihn könnte es durchaus kümmern, was es wirklich mit jenem Anschlag auf sich hatte, in dessen unmittelbarer Folge für Carl von Ossietzky eine todbringende KZ-Haft begann. Und ein ähnliches Martyrium oder das Exil für viele deutsche Schriftsteller.


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