Die doppelten Deutschen

Einheit Das Grundgesetz wurde den hurtig angeschlossenen Ostdeutschen selbstbestimmungsfrei übergestülpt. Ohne eine neue Verfassung werden sie immer Anschlussbürger bleiben

Am Wochenende möchte er wiedergewählt werden, und er hat die besten Chancen, noch einmal unser Bundespräsident zu werden. Wessen Bundespräsident? Der Ostdeutschen oder der Westdeutschen? Keine Frage. Horst Köhler wird, falls er gewählt wird, wieder der Präsident aller richtigen Deutschen sein, wie es sein Grundgesetz vorsieht.

Köhlers Grundgesetz ist von besonderer Art. Es kennt nur den Artikel 23 und sonst nichts auf der Welt. Dieser Artikel 23 sieht vor, dass das Grundgesetz „in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist“ – gemeint war etwa das Saargebiet. Für eine „Wiedervereinigung“ von West- und Ostdeutschland sind die Präambel und der Artikel 146 des Grundgesetzes bindend. Danach gilt das Grundgesetz nur für eine „Übergangszeit“, bis das „gesamte Deutsche Volk“ in „freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands“ vollendet habe. Und damit verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossen worden“ ist.

„Kobra, übernehmen Sie“

Das ist bis heute nicht geschehen. Aber das war die Gefahr 1989/90. Im Osten arbeitete der Runde Tisch bereits an einer neuen Verfassung für die DDR und bald auch für den Fall einer Vereinigung. Allerdings wurde der Runde Tisch während des Anschlussprozesses so gründlich geschreddert, dass von der Bürgerbewegung nur ideologisch einwandfreie Schnipsel übrig blieben, die sich in Westparteien integrieren ließen. Der Rest ist längst verbrannt.

Denn wenn Gefahr droht, wächst das Rettende ganz schnell. Was vom Osten unserem Grundgesetz drohte, hatte der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel längst kommen sehen. „Kobra, übernehmen Sie“, das war die Anordnung, die er nach eigenem Geständnis Anfang 1990 seinem Finanzstaatssekretär Horst Köhler erteilte. Die Kobra ist eine gefährliche Schlange, die ihrem Gegner auch aus weiter Entfernung zunächst Gift in die Augen spritzt, um ihn wehrlos zu machen. Dann beißt sie zu und lähmt das Atemzentrum, bis Herzstillstand eintritt. Oder etwa so: Man macht die Ostdeutschen mit dem Angebot der D-Mark wehrlos und vernichtet dann ihre Industrie.

Zum Kobra-Team Horst Köhlers gehörte der nunmehrige Staatssekretär im Bundespräsidialamt Gert Haller. Der plauderte später aus, wie klandestin das Kobra-Team vorging: „Die weitreichenden Überlegungen, den Anschluss der DDR über den Artikel 23 des Grundgesetzes herzustellen, durfte man überhaupt nicht in den Mund nehmen. Das Wort ‚Anschluss’ war tabu, weil man befürchtete, mit solchen Vokabeln würde die Aufbruchstimmung in der DDR massiv beeinträchtigt.“

Doch dank Köhlers Kobra-Team kam schnell die Währungsunion – er selber nannte sie später eine „Sturzgeburt“. Der Anschluss fuhr sodann die DDR rasant gegen die Wand. Dafür sorgte Köhlers fähigster Mitarbeiter, der spätere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin – eben der mit den Menüvorschlägen für Hartz-IV-Menschen. Sarrazin rechnete für Köhler aus, dass mit dem Anschluss „ca. 35 bis 40 v. H. der Industriebeschäftigten“ in der DDR auf die Straße müssten, damit „der in der Bundesrepublik übliche Anteil der Industriebeschäftigten an der Wohnbevölkerung erreicht“ werde. Für die Übererfüllung dieser Planzahl durch Vernichtung der ostdeutschen Industrielandschaft sorgte Horst Köhler selbst, als der im Finanzministerium zuständige Mann für die Treuhand.

Anschlussdeutsche, Unterdeutsche, Oberdeutsche

Das Grundgesetz, das den hurtig angeschlossenen Ostdeutschen selbstbestimmungsfrei übergestülpt wurde, sieht jedoch nach Artikel 72 die „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ in allen Ländern der Bundesrepublik vor.

So verfassungsradikal wollte Köhler nicht sein, als er erst einmal Bundespräsident war. Und darum mahnte er die durch den Anschluss hinzugekommenen Ostdeutschen, sich damit abzufinden, dass es „überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen“ gegeben habe und gebe. Wer das ignoriere, lege – eine Begründung, die jeden Verfassungsartikel obsolet macht – „der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf“.

Ganz vergessen kann dieser Bundespräsident freilich nicht, wie sehr das Grundgesetz versprochen hat, sich selbst in einer neuen gesamtdeutschen Verfassung aufzuheben. Auf einer Geburtstagsfeier für den „Kanzler der Einheit“ erinnerte Köhler, was Kohl noch 1987 Honecker in Bonn gesagt hatte: „Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition. Sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden… Und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht.“

Seit Honecker weg ist, müssen die im Osten dazulernen, dass ihre Lebensverhältisse dem Artikel 72 widersprechen dürfen: Anschlussdeutsche sind Unterdeutsche. Sie haben aber durchaus die Chance, sich durch unermüdliche Anpassung zu Oberdeutschen im Sinne des Artikels 23 Grundgesetz zu entwickeln. Wenn alle diese Stufe der Zivilisation durchlaufen haben, dann ist der Kommunismus in Deutschland besiegt und die Einheit der Nation – endlich – wiederhergestellt.

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