Die Gen-Zone Ost

Desinteresse und Faulheit Bundestagsvizepräsident Thierse ruft die Ostdeutschen zur Ordnung

Die Abgeordneten des Bundestages setzten gerade zum artgemäßen Verhalten an: zum Hammelsprung. Der heißt so, weil - wie das Duden-Wörterbuch in unbegründeter Vergangenheitsform feststellt: "... die Abgeordneten wie Hammel hinter ihren Vorsitzenden, den Leithammeln, den Saal betraten".

Doch da sprangen von der Zuschauertribüne zwei Unbefugte in das ziemlich leere Plenum und entfalteten auf einem großen Transparent das Grundgesetz des Parlaments: "Die Wünsche der Wirtschaft sind unantastbar". Andere warfen von oben Papiergeldscheine auf die verbliebenen Volksvertreter. Draußen seilten sich wieder andere Unbefugte ab und verhängten die Reichstagswidmung "Dem Deutschen Volke" mit der Aufschrift "Der Deutschen Wirtschaft" (s. Seite 6).

Das missfiel dem amtierenden Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse so sehr, dass er an jenem Freitag Ende April ganz schnell und etwas außerhalb der Geschäftsordnung feststellte, sein Haus sei "nicht beschlussfähig" und - "ich hebe die Sitzung damit auf" - den Abgeordneten ein "angenehmes Wochenende" wünschte.

Tatsächlich waren die Spitzen der deutschen Wirtschaft nicht im Plenum anwesend. Doch zur gleichen Zeit veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Website eine Aufstellung (Politiker a.D. in ihren neuen Jobs), die offenbart, wie aus Hammeln und Leithammeln durch kunstgerechtes Springen beschlussfähige Menschen werden können.

Die SZ-Parade wird eröffnet von Gerhard Schröder: "Einst Bundeskanzler, nun Aufsichtsratsvorsitzender des deutsch-russischen Gaskonsortiums Nord Stream, das eine Pipeline durch die Ostsee bauen wird. Dafür bekommt Gerhard Schröder eine ›Aufwandsentschädigung‹ von 250.000 Euro jährlich. Das Milliardengeschäft war kurz vor der Bundestagswahl 2005 unter seiner Kanzlerschaft vereinbart worden. Außerdem verdingt sich Schröder als Berater beim Schweizer Medienkonzern Ringier."

Die höchst unvollständige, aber sehr repräsentative Aufstellung umfasst 13 ehemalige Abgeordnete und endet bei Friedrich Bohl, dem letzten CDU-Kanzleramtsminister von Helmut Kohl, jetzt Vorstand bei der Deutschen Vermögensberatung AG (DVAG), für die er Helmut Kohl als Beiratsvorsitzenden engagierte sowie den ehemaligen Finanzminister Theo Waigel als Aufsichtsrat.

Aber es ist etwas ganz anderes, was den Vizepräsidenten des Bundestages noch immer ungemein erbost: Am Sonntag vor der Beschlussunfähigkeit der Vertreter des deutschen Volkes zeigte sich dieses Volk selbst in Sachsen-Anhalt auch nicht sehr beschlussfreudig. "Desinteresse, Faulheit und der fehlende Glaube, dass man mit seiner Wählerstimme etwas erreichen kann", das diagnostizierte Wolfgang Thierse in der Passauer Neuen Presse bei den Bürgern in Sachsen-Anhalt. Sie hatten sich nur mit 36,5 Prozent an den Kommunalwahlen beteiligt (und bei den Stichwahlen zwei Wochen später, am 6. Mai, waren es gar nur 20,5 Prozent).

Thierse dachte nach und führt dieses "mangelnde Vertrauen in die Demokratie" auf "DDR-Prägungen" zurück. Das muss wohl so sein. Im Westen gibt es ganz andere, damit unverträgliche Prägungen. Thierse befindet sich mit dem Urteil über seine ehemaligen Landsleute durchaus in Übereinstimmung mit der herrschenden westlichen Wissenschaft. Die große Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann betreibt das Volksbefragungswesen seit 1940 wissenschaftlich. Und diese hocherfahrene Demoskopin klagte schon kurz nach dem Anschluss der DDR: "Das ist meine Sorge: In Ostdeutschland stellen wir von Halbjahr zu Halbjahr weniger Unterstützung für die Demokratie fest." Ende 1990 hätten noch 41 Prozent der Ostdeutschen geantwortet: "Ist die beste Staatsform". Doch die Unterstützung für die Demokratie sank immer mehr: "Bis zum Frühjahr 1994 hat sich die Zahl der überzeugten Demokraten auf 31 Prozent verringert."

Dann allerdings kam heraus, dass sie eigentlich nicht nach Demokraten und Demokratie gefragt hatte, sondern nach etwas anderem: "Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform?"

Wolfgang Thierse ist schon dank seines Amtes ohne jeden Zweifel einer der angekommensten Menschen aus dem Kreis der ehemaligen Schwestern und Brüder im Osten. Und deshalb kann er nicht verstehen, dass für die Sachsen-Anhaltiner, die Art von Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, keine gute Staatsform ist: Kurz vor den Wahlen, an denen zu beteiligen sie soviel Unlust zeigten, war ihnen demonstriert worden, wie wenig sie und wie viel die Wirtschaft in dieser besten Staatsform zu sagen haben.

Trotz ihres erbitterten Widerstandes genehmigte das Bundesamt für Verbraucherschutz die Freisetzung von genmanipulierten Saaten gegen den Einspruch von 75.000 Bürgern. Der für den Aufbau Ost zuständige SPD-Fraktionsvize im Bundestag Klaas Hübner sieht darin eine "Riesenchance" und plädiert für eine "Gen-Zone Ost". Der Unternehmer Klaas Hübner kommt - wie Thierse - selbst aus der Zone. Er ist seit Oktober 2004 stellvertretender Landesvorsitzender der SPD Sachsen-Anhalt, Mitglied des Bundestages seit 2002, Sprecher des Seeheimer Kreises der SPD-Fraktion.

Doch wenn man von der Bundestagswebsite "Transparenz bei Nebentätigkeiten von Bundestagsabgeordneten" weiterklickt auf seine Biographie, dann heißt es nahezu zwei Jahre nach der Wahl, wie bei manchem anderen, immer noch: "Die nach den Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages veröffentlichungspflichtigen Angaben werden zum Zeitpunkt des Erscheinens des 2. Teils des Amtlichen Handbuches veröffentlicht."


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