Die Kinder vom Bullenhuser Damm

Dem Schriftsteller Günther Schwarberg zum 80. Beispielhafte Vergangenheitsbewältigung in einem konkreten Fall

Auf dem Roten Sofa im Movimento des Hamburger Gewerkschaftshauses sitzt ein Mörder, freut sich seines nunmehr 80-jährigen Lebens und erzählt. Mörder war er nur reichlich kurz - und nur für die Polizei. Sie hatte ihn, den damals 25-jährigen Journalisten, unter der Beschuldigung festgesetzt, seinen ehemaligen Chefredakteur mit einem Sprengstoffpäckchen umgebracht zu haben. Ein Kollege hatte Günther Schwarberg als "im kommunistischen Fahrwasser" schwimmend denunziert, den ein "ausgesprochener Hass" gegen den Chefredakteur, einen ehemaligen SA-Mann, umtreibe. Tatsächlich aber hatten drei Kollegen von Schwarberg den wahren Halacz-Mörder bald überführt.

Das war der Auftakt eines langen Autorenlebens. Heute heißt es in der Einladung des gewerkschaftlichen Kulturvereins zur Lesung mit Schwarberg: "Durch seinen Einsatz gelingt eine beispielhafte Vergangenheitsbewältigung in einem konkreten Fall." Ja, er hat mit einer Serie im Stern und dem Buch Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm ein beispielloses Verbrechen aufgedeckt. Am 20. April 1945 ließ dort der SS-Obersturmführer Arnold Strippel 20 jüdische Kinder an Fleischerhaken aufhängen - zuvor waren sie in Auschwitz mit medizinischen Experimenten gequält worden.

Schwarberg hat dafür gesorgt, dass die Namen der Kinder nicht vergessen sind, und ihre Angehörigen in aller Welt aufgespürt, um mit ihnen die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm zu gründen. Doch die für die Bundesrepublik so "beispielhafte Vergangenheitsbewältigung" gelang nicht Günther Schwarberg allein - sie gelang besonders dem Hamburger Staatsanwalt Helmuth Münzberg. Er stellte das Verfahren gegen Strippel mit der falschen Begründung ein, alle Tatzeugen seien tot. Darüber hinaus kam er zu der Erkenntnis, es fehle das "Mordmerkmal der Grausamkeit", den jüdischen Kindern sei "über die Wegnahme ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden". Diese Bewältigung der Vergangenheit fand ihre Vollendung, als Münzberg 1990 zum "Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz in Mecklenburg-Vorpommern" delegiert wurde - als Stellvertretender Generalstaatsanwalt.

Die Kinder vom Bullenhuser Damm - "da steckt mein Leben drin", sagt Schwarberg. Das Gedenken an sie ist zu seinem Lebenswerk geworden, auch wenn er noch andere wichtige Bücher geschrieben hat, über Brecht, über Thomas Mann und zuletzt - Dein ist mein ganzes Herz - über den von Franz Lehar verratenen Librettisten Fritz Löhner-Beda. Der wurde am 4. Dezember 1942 in Auschwitz erschlagen. Schwarbergs Autobiografie Das wird noch alles anders werden erscheint im nächsten Jahr. Am 15. Oktober wurde er erst einmal 80 - Glückwunsch und noch viele arbeitsreiche Jahre, dieses Land kann es brauchen.


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