Die Rattenlinie

Eichmann, Pius XII. und Paul VI. Neue Erkenntnisse über die vom Vatikan nach 1945 unterstützte Flucht von NS-Kriegsverbrechern nach Südamerika

Eigentlich sollte 1953 der neugeborene Sohn eines argentinischen Diplomaten in Washington auf den Namen Juan Domingo getauft werden. Eine Hommage an den damaligen Präsidenten Juan Domingo Peron. Der Vater widerstand jedoch dem Wunsch der Familie und ließ den Sohn auf den Namen Uki taufen. Über ein halbes Jahrhundert später legt der Journalist Uki Goñi nach sechsjähriger Arbeit in den Archiven vieler Staaten eine umfangreiche Untersuchung vor, betitelt Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher (erschienen bei Assoziaton A, Berlin), die dokumentiert, wie hilfreich sich gerade dieser Juan Domingo Peron nach 1945 für die Flucht von Nazis aus fast allen Ländern Europas erwiesen hatte.

Die "Rattenlinie" - wie die Fluchtroute seinerzeit genannt wurde - war das Ergebnis eines Einwanderungsabkommens, das Giovanni Batista Montini, der spätere Papst Paul VI., im Auftrag von Pius XII. im Juni 1946 mit dem Botschafter des Peron-Regimes beriet. Der Heilige Vater schlug durch seinen Staatssekretär Montini vor, dass "Experten des Vatikans gemeinsam mit argentinischen Experten einen Aktionsplan ausarbeiten" sollten. Ziel: NS-Kollaborateure, aber auch deutsche NS-Täter nach Argentinien auszuschleusen.

Den kirchlichen Würdenträgern in Argentinien ging es um christliche Nächstenliebe, vor allem aber verbanden sie damit die Absicht, in Südamerika einen Stamm antikommunistischer Experten zu bilden, auf den man im Fall einer "russischen Katastrophe" zurückgreifen könne. Adolf Eichmann war einer davon. Als der Organisator des Holocaust 1960 von Israelis aus Buenos Aires entführt wurde, protestierte der argentinische Kardinal und Leiter der Katholischen Aktion, Antonio Caggiano: "Es ist unsere Christenpflicht, ihm zu verzeihen, was er getan hat."

Eichmann war über die "Rattenlinie" gekommen, die Caggiano anbahnte, als er im März 1946 in Rom zum Kardinal geweiht wurde. Im Vatikan besprach er die Einzelheiten mit der päpstlichen Hilfsorganisation und dem Russlandexperten Kardinal Tisserant. Caggiano informierte Tisserant, dass "die Regierung der argentinischen Republik gewillt sei, französische Persönlichkeiten aufzunehmen, deren politische Haltung während des vergangenen Krieges sie nach ihrer Rückkehr nach Frankreich Vergeltungsmaßnahmen oder privaten Racheakten aussetzen würde."

Es ging beim Plausch mit dem Kardinal allerdings nicht nur um diese "französischen Ehrenmänner" des Pétain-Regimes. Der überzeugte Antikommunist Tisserant ließ auch die Bemerkung fallen, dass die "Roten" ein christliches Begräbnis nicht verdienten. Autor Goñi dazu: "Der Kardinal nahm damit eine schaurige Doktrin vorweg, die während der argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 in die Praxis umgesetzt wurde, als die Generäle eine Politik des Verschwindenlassens entwickelten, die eine Beerdigung ihrer Opfer verhinderte. Sie stießen Tausende von Menschen bei lebendigem Leib aus Militärflugzeugen in den Atlantik."

Die Militärs hatten gelernt aus dem reichen Erfahrungsschatz, den die Experten der Nazis ins Land brachten, denn neben den "französischen Ehrenmännern" sollten auch Kollaborateure und Kriegsverbrecher aus anderen von den Nazis bis 1945 beherrschten Ländern die "Rattenlinie" nach Südamerika nutzen. Darunter Ustascha-Faschisten, die einst aufgebrochen waren, den rassereinen katholischen Ustascha-Staat der Kroaten zu errichten: "Für den Rest - für Serben, Juden und Zigeuner - haben wir drei Millionen Kugeln", verkündeten die Rassepolitischen Richtlinien des 1941 mit deutscher Hilfe errichteten Regimes. Kommandiert wurden die Todesschwadronen der Ustascha häufig von Franziskanermönchen, die zu Grausamkeiten aufriefen, vor denen selbst deutsche Nazis erblassten. Franziskaner waren es dann auch, die im Vatikan ihren Mordkollegen zur Flucht nach Argentinien verhalfen.

Die 1941 aus dem jugoslawischen Staatsschatz geraubten Goldbarren, aber auch Goldzähne der Ustascha-Opfer wanderten in den Machtbereich des Papstes, wurden unter Altären versteckt und finanzierten die "Kreuzritter" der Ustascha, die nach 1945 im Untergrund gegen das wiedererstandene Jugoslawien ihren Terror ausübten.

Ein besonderer Schutzpatron der nach Argentinien strömenden Kriegsverbrecher war der österreichische Bischof und päpstliche Hausprälat Alois Hudal, der unter anderem die Flucht von Franz Stangl organisierte, dem Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka. Der Prälat hatte, wie Goñi jetzt enthüllt, im August 1948 den argentinischen Diktator Peron um 5.000 Visa für deutsche und österreichische "Soldaten" gebeten. Schon 1937 hatte Bischof Hudal Brücken zu einem "christlichen Nationalsozialismus" schlagen wollen. Er sah sich schließlich "veranlasst", wie er 1970 in seinen Römischen Tagebüchern gestand, "nach 1945 meine ganze karitative Arbeit in erster Linie den früheren Angehörigen des NS und Faschismus, besonders den sogenannten ›Kriegsverbrechern‹ zu weihen, die von Kommunisten und ›christlichen‹ Demokraten verfolgt wurden." Die Veranlassung zur Rettung der Nazis kam von ganz oben. Bischof Hudal: "Ich danke aber dem Herrgott, dass Er mir meine Augen geöffnet und auch die unverdiente Gabe geschenkt hat, viele Opfer der Nachkriegszeit in Kerkern und Konzentrationslagern besucht und getröstet und nicht wenige mit falschen Ausweispapieren ihren Peinigern durch die Flucht in glücklichere Länder entrissen zu haben."

Gottes Stellvertreter auf Erden war daran gleichfalls nicht unbeteiligt. Noch in der ersten englischsprachigen Auflage vom Januar 2002 konnte Goñi nur - allerdings sehr kräftige - Indizien dafür liefern, dass Pius XII. und Giovanni Batista Montini (der spätere Papst Paul VI.) bei der Rettung von Hitlers Helfern assistierten. Die katholische Presse, die durchaus eine Beteiligung von Personal aus dem Vatikan zugab, warf Goñi vor, "für die unterstellte päpstliche Komplizenschaft die Beweise schuldig geblieben zu sein". Das hat sich inzwischen durch neue Funde des Autors im britischen Nationalarchiv und durch frei gegebene CIA-Dokumente geändert. Sie belegen: Der damalige Papst setzte sich unter der Hand in Washington und London für Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateure ein.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden