Er schien selbst davon überzeugt, als er am Ende seiner Abschiedsvorlesung noch einige Worte zu seinen 16 Jahren an der Humboldt-Universität fand: "Es war wunderbar, hierher zu kommen, und ich habe selten ein so großartiges Kollegium erlebt wie hier am Institut für Geschichtswissenschaft."
Zwangseingesetzt war er, Heinrich August Winkler, 1992 vom (West-)Berliner Wissenschaftssenator Manfred Ehrhardt. Und der angesehene Münchner Althistoriker Christian Meier meinte zu dieser Investitur: "Man muss schon mit dem Feingefühl eines Panzers ausgestattet sein, um an eine der schwierigsten Stellen der Humboldt-Universität einen Mann zu setzen, dessen Takt umgekehrt proportional ist der Schwierigkeit der Aufgabe, die sich ihm stellt."
Das war damals, als mit dem Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, westdeutsche Professoren, Dozenten und Assistenten die Festung Wissenschaft im Osten stürmten und deren bisheriges Personal hinaussäuberten - Evaluierung nannte man diesen Vorgang. Winkler säuberte mit Takt, nahezu im Minutentakt. Als er aus Freiburg ankam, war Professor Ingo Materna noch Direktor des Historischen Instituts - im Dezember 1990 hatten ihn seine Kollegen in freier Wahl gewählt. Er musste weg. Am 7. Januar 1991 forderte Senator Ehrhardt den amtierenden Rektor Zschunke ultimativ auf, Winkler als Institutsdirektor einzusetzen. Der legale Institutsdirektor Materna bekam einen von Winklers Sekretärin unterschriebenen Brief, in dem dieser mitteilte, in Absprache mit den neuberufenen Professoren sei er, Winkler, fortan der Institutsdirektor.
"Wie sollte das angesichts der Belastungen dieses Faches und auch einiger anderer Fächer eigentlich gehen, können Sie mir das erklären?" So fragte er mich, als ich ihn im Dezember 1992 an seiner neuen Wirkungsstätte besuchte. "Würden Sie einen Professor, jetzt frage ich mal, im Amt belassen, der Studenten relegiert hat?" Wer das sei? Winkler: "Zum Beispiel Kurt Pätzold. Würden Sie jemand im Amt belassen, der aus politischen Gründen dazu beigetragen hat, dass Studenten die Universität verlassen mussten?"
Professor Kurt Pätzold - Arbeitsschwerpunkt Antisemitismus und Erforschung des Nationalsozialismus - bestritt nicht, dass er an Relegationsverfahren von Studenten beteiligt war, beteiligt sein musste. Er bedauerte dies und zählte die Verfahren zu den "Sargnägeln für die DDR" - die Studenten, die politisch aufgefallen waren, wurden "in die Produktion" geschickt. Pätzold sagte mir, dass er weiter mit den betroffenen Studenten in Kontakt blieb, dass sie später ihr Studium zu Ende führen konnten und die meisten von ihnen Karriere in Verlagen und in der Akademie der Wissenschaften machten. Aus den akademischen Ämtern vertrieben wurde mancher von ihnen nach dem Ende der DDR.
Heinrich August Winkler, der in den siebziger Jahren vor den Studenten der FU Berlin ins, wie er meinte, ruhigere Freiburg geflüchtet war, hatte auch dort nur Kummer mit seinen Studenten. Zumindest in einem Fall führten seine Aussagen zu einer Relegation. Und die Studenten machten ihren Professor als Dekan und als Mitglied der Fakultätskonferenz für die Weitergabe von Unterlagen an das Oberschulamt verantwortlich. Sie wurden gegen eine ehemalige Studentin, die in den Schuldienst wollte, verwendet.
Gewiss, ebenso wenig wie der durch ihn vertriebene Pätzold ist Winkler ein drittrangiger Historiker. Er hat, wo ihm seine Teleologie zum freiheitlichsten Staat aller Deutschen nicht in die Quere kam, einiges geschrieben, das grosso modo bestehen kann. Doch seine eigentliche Stärke liegt woanders. Sie bewährte sich im Straßenkampf. Und da erregte er sich, wo er nur konnte. Und so traf es sich gut, dass er mit dem Chefhysteriker der Freien Universität Arnulf ("Bürger auf die Barrikaden!") Baring in der "Unabhängigen Kommission zur Umbenennung von Straßen" zusammenkam, wo die beiden Kommissare eine Zweidrittel-Mehrheit der Historiker bilden konnten. Erstes Gebot: Toleranz unter Demokraten. Dem SPD-Mann Winkler war es ein unerträglicher Gedanke, dass Helmut Kohl - der damalige CDU-Kanzler - vielleicht durch eine Clara-Zetkin-Straße ins Kanzleramt fahren müsse. Die ehemalige Sozialdemokratin hatte nämlich den richtigen Weg verlassen. Darum wurde die Straße konsequent in Dorotheenstraße rückbenannt, nach jener Kurfürstin, die - damit die eigene Brut regieren könne - ihren Stiefkindern mit Gift zu Leibe rückte.
Für "humanitäre Interventionen" setzte sich auch Heinrich August Winkler in seiner Abschiedsvorlesung ein, um wenigstens "den krassesten Verletzungen der Menschenrechte mit allen Mitteln" entgegenzutreten. "Der Historiker der Berliner Republik" hat, so erkannte die Welt, damit der deutschen Geschichte zu ihrem Happy End verholfen: "Winkler erzählt eine deutsche Geschichte mit glücklichem Ausgang. Am 3. Oktober 1990 lagen alle Sonderwege hinter den Deutschen, und alle deutschen Fragen wie die nach den Grenzen und die nach dem Verhältnis von Einheit und Freiheit waren beantwortet."
Ja, auch der Tagesspiegel erfasste es richtig: "Die Macht der Ideen wirkte im Audimax der Berliner Humboldt-Universität. Professoren und Politiker, Eminenzen und Exzellenzen waren erschienen, der große Saal gefüllt. Die Fernsehkameras zeichneten auf: Im Scheinwerferlicht wurde die Abschiedsvorlesung des Historikers Heinrich August Winkler zu einem gesellschaftlichen Ereignis."
Fehlen noch die gebührenden Ehrungen. Winklers Verdienste im Straßenkampf sollte die rot-rote Koalition schleunigst damit belohnen, dass das missverständliche Rote Rathaus in Heinrich-August-Winkler-Rathaus umbenannt wird. Und für die Verdienste des Historikers um die Berliner Freiheit der Wissenschaft ist jener Ehrendoktor fällig, den die nicht rückbenannte Humboldt-Universität auch schon jenem SS-Sturmbannführer Wilhelm Krelle verlieh, der seine bei der Führung der SS-Panzergrenadierdivision Götz von Berlichingen erworbenen Fähigkeiten nach dem Mauerfall restlos zum Säubern ihrer Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eingesetzt hat.
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