Als Jörg Schönbohm von dem "Fund der neun toten Babys" hörte, da befiel ihn - so bekannte er dem Tagesspiegel - "die wilde Schwermut". Doch der ehemalige Bundeswehrgeneral wandelte sie produktiv um in den Angriff auf den Feind, den er zeitlebens zu vernichten trachtete. Er sei, "gebürtiger Brandenburger", und er wisse eigentlich nicht, wo "bei einem Teil unseres Menschenschlags" diese "unglaubliche Gleichgültigkeit" herkommt. Doch dann fällt ihm ganz schnell ein, "dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft".
Warum sonst könnte eine deutsche Mutter ihre neun Babys umgebracht haben? Es gibt nur die eine Erklärung: "Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft durch die SED in den fünfziger Jahren ging der Verlust von Verantwortung für Eigentum einher, für das Schaffen von Werten. Das freie, selbstverantwortliche Bauerntum wurde vertrieben." Schönbohm hat als Kind noch jenen anderen "Menschenschlag" erlebt: die Bauern, die gläubig zu ihrem Grundbesitzer aufschauten, wie Leibeigene zum Adelsherrn, bevor er sich nach Westdeutschland absetzte und als 20-Jähriger zur Bundeswehr ging, der er 35 Jahre in immer höheren Positionen diente, bis er als Sieger in die alte Heimat zurückkehren konnte.
Marx, Engels und Lenin blicken beherrschend in die Zukunft
1992 hat Schönbohm, in einem Erinnerungsbuch (Zwei Armeen und ein Vaterland. Das Ende der Nationalen Volksarmee, Siedler Verlag) geschildert, wie er die Armee des Feindes auflöste, um Ostdeutschland von diesem "Menschenschlag" zu befreien.
Schon am 11. September 1990 - der Anschluss der DDR ist noch nicht vollzogen - bricht Generalleutnant Schönbohm nach Ostberlin auf, um alle Vorbereitungen für "den Übergang" am 3. Oktober zu treffen: "Beim Imbiss unterhalte ich mich mit einigen Generalen der NVA, die jetzt noch Verantwortung tragen. Über ihre Zukunft machen sie sich wenig Illusionen... sie schätzen ihren persönlichen Beitrag beim friedlichen Übergang hoch ein und leiten von daher den Anspruch auf faire Behandlung ab."
Für Schönbohm eine Frechheit: "Die kommunistische Vergangenheit gibt es in ihren Argumenten nicht; ich muss sie daran erinnern." Dann hat er im Tageszentrum Strausberg, wo er ab 2. Oktober Quartier nehmen wird, noch eine erschreckende Erfahrung zu machen: "Als wir die große Halle betreten, grüßen uns zu unserem Erstaunen von der gegenüberliegenden Wand die Köpfe von Marx, Engels und Lenin aus Meißener Kacheln - sie blicken noch immer beherrschend in die Zukunft. Offensichtlich hat bisher noch niemand den Mut gehabt, sich von den drei Säulenheiligen der DDR zu trennen. Erst kurz vor der Übergabe des Kommandos am 3. Oktober werden die drei Häupter auf unser Betreiben wenigstens verhüllt."
Wenige Tag später zieht Schönbohm alle Kommandeure der Bundeswehr zusammen, die im Beitrittsgebiet tätig werden sollen, und erklärt, dass "wir die Aufgabe haben, eine ehemals feindliche Armee zu übernehmen, kontrolliert auszulösen und neue Truppenteile der Bundeswehr mit ehemaligen NVA-Angehörigen aufzubauen." Die Offiziere begreifen, dass sie "Pioniergeist, Entscheidungsfreude und die Fähigkeit beweisen müssen, mit" - nun ja - "Menschen umzugehen". Problem: "Die Kommandeure im gesamten Bereich der NVA sind sich aber noch immer im unklaren darüber, ob sie von Bundeswehroffizieren ersetzt werden, wer sie gegebenenfalls ersetzten wird und was anschließend mit ihnen geschehen soll."
Am Tag vor dem Neuaufbruch, am 2. Oktober, sitzt er schon im Ministerium mit dem inzwischen verhüllten Häuptern auf Beobachtungsposten: "In Strausberg strömen mit Dienstende die Soldaten und zivilen Mitarbeiter aus dem Ministerium - zum letzten Mal in der Uniform des hinweggefegten Arbeiter- und Bauernstaates. Einige von ihnen werden morgen wiederkommen - in der Uniform NATO-oliv des früheren Klassenfeindes. Auf den Müll- und Abfallplätzen liegen schon jetzt Teile der alten Uniform."
Um Mitternacht beim Ausbruch der deutschen Einheit hält es der General für "angebracht, ein paar Worte zu sagen" und findet dabei auch einige, die immer passen: "Wir alle brauchen Zeit, um aus unseren unterschiedlichen Biographien Mut und Kraft zu finden für gemeinsame Erfahrung, gegenseitiges Verstehen und Vertrauen in die gemeinsame Zukunft." Die Bevölkerung der untergegangenen DDR, so fügt er hinzu, habe sich von einem Unrechtsregime befreit. "Wir aus dem Westen haben lange Zeit nur zugeschaut. Jetzt können auch wir Hand mit anlegen." So wie Deutschland von nun an - "Nie wieder Auschwitz!" in Jugoslawien samt Verteidigung am Hindukusch - überall Hand anlegt, wo es seit 1945 nur zugeschaut hat.
Am Tag der Deutschen Einheit, "ein strahlend sonniger Tag", fliegt Schönbohm "in einem sowjetischen Hubschrauber MI-8 mit dem Hoheitsabzeichen des deutschen Eisernen Kreuzes" nach Berlin. Sieg! "Es ist ein eigenartiges Gefühl, über die Mark Brandenburg zu fliegen, Berlin zu überqueren, am Alexanderplatz vorbei. Das Brandenburger Tor liegt unter uns, der Tiergarten, die Siegessäule." Sieg. Am nächsten Tag hält er vor der angetretenen Osttruppe eine nette Rede: "Wir kommen nicht als Sieger oder Eroberer. Wir kommen als Deutsche zu Deutschen."
Nachtwächter, Zeitungsausträger und Tankwarte bessern ihre Rente auf
Schon am dritten Tag der deutschen Einheit muss sich der Oberkommandierende das Gequengel von vier Obersten der ehemaligen NVA anhören: Deren Kommandeur, ein Generalmajor, sei mit Wirkung vom 2. Oktober seiner Funktion enthoben und in den Ruhestand versetzt worden, obwohl er doch loyal und fachlich kompetent gewesen sei und die Sicherheit der Waffenbestände bis zur heutigen Stunde gewährleistet habe. Helmut Kohl habe doch den "gewaltfreien Verlauf der Veränderungen in diesem Lande" anerkannt. Und nun der politische Rasenmäher? Geduldig erklärt Schönbohm den vier (Noch-) Obersten, dass die Bundeswehr "in jeder Hinsicht eine andere Armee als die ehemalige NVA" sei, was auch dadurch deutlich werden müsse, dass die alten Generale der NVA, ausgebildet im sozialistischen System" (nicht im nationalsozialistischen wie die Generale der Bundeswehr - O.K.) "in der Bundeswehr keinen Platz mehr haben". Richtig, inzwischen sind aus NVA-Generalen und Offizieren längst Nachtwächter, Zeitungsausträger, Tankwarte und Putzhilfen geworden, die so ihre Rente aufbessern müssen. Eine vorbildliche Regelung, wenn sie auch für andere deutsche Armeen gelten würde.
Im Januar 1991 ist ein Großteil der NVA-Offiziere bereits abgewickelt. Aber immer wieder gibt es Beschwernisse. Der katholische Bischof von Dresden kommt und bedankt sich, nein dankt, "dass wir jetzt einen katholischen Militärdekan bei uns im Kommando haben". Der Kirche würden Schwierigkeiten gemacht, ein Gebäude für eine katholische Schule zu finden. Schönbohm hellwach: "Offensichtlich wollen die alten Seilschaften dies verhindern. Inwieweit kann die Bundeswehr auch hier helfen?"
21. Januar 1991. Alarm, feindlicher Überfall: "Gestern demonstrierten einige hundert Personen in Strausberg vor unserem Kommando gegen den Golf-Krieg, beschmierten Mauern und Fassaden, überstiegen den Zaun und streiften durch unser Gelände. Ein schwerwiegender Eingriff, Hausfriedensbruch zumindest, auf den unsere Wachsoldaten nicht ausreichend vorbereitet waren. Auch die Polizei, die frühzeitig alarmiert wurde, erwies sich als nicht fähig, gegen die Demonstranten vorzugehen." Bange Frage: "Wie stehen wohl meine Soldaten der Demonstration gegenüber? Wie kann ich von den mehr als 40 Jahre in politischer Unmündigkeit gehaltenen Menschen eine eigene, von marxistischer Denkweise schon unabhängige Stellungnahme erwarten? " Ein Vorfall, wie er ein für allemal abgestellt werden muss: "Ich empfinde ihn als einen Angriff auf die Bundeswehr, der sich nicht wiederholen darf."
Ende Januar 1991, nach Hamburg zur Führungsakademie: Im "Arbeitskreis für Frieden und Sicherheit" versucht Schönbohm, die "Gesamtproblematik der Aufgabe" darzustellen: "Erst langsam setzt sich die Auffassung durch, dass die Armee eine wichtige Rolle bei der Überwindung der deutschen Teilung spielt." Überwindung der Teilung durch Ausscheidung. Erfreut notiert Schönbohm am nächsten Tag: "Von den ursprünglich vorhandenen 32.000 Offizieren sind von September bis Januar bereits 22.000 Offiziere ausgeschieden." Ostoffiziere natürlich, die durch wertvolle Westoffiziere ersetzt werden, "wozu wir wenigstens einen finanziellen Anreiz durch angemessene Bedingungen schaffen müssen, da die sonstigen Lebensbedingungen - Unterkünfte, Schulmöglichkeiten und gesellschaftliches Leben - schwer ertragbar sind." Die wenigen NVA-Offiziere, die - sorgfältig ausgewählt und selbstverständlich degradiert - vorerst weitermachen dürfen, sind blendend abgerichtet: einer - "früher Oberstleutnant, jetzt Hauptmann, hat aus den Bedingungen, unter denen er arbeiten muss, das Beste gemacht und ist dabei, die Bundeswehrbestimmungen Zug um Zug einzuführen, ohne viel Diskussionen, konsequent und klar. Ein erfreuliches Bild."
Der Ex-General, Ex-Senator und Innenminister landet einen "Treffer"
Am 1. Juli 1991 löst Schönbohm das Bundeswehr-Sonderkommando Ost auf, einige der abgewickelten Offiziere haben sich aufgehängt. Der Rest erfährt aus Schönbohms Abschiedsrede: "Für uns hat sich Deutschland nicht nur politisch verändert und geographisch erweitert" - die im Osten lebten demnach bis 1990 in Undeutschland - "sondern vor allem menschlich und kulturell."
Inzwischen hat der Siegergeneral höchste zivile Stellungen bezogen, zuerst als Law Order-Senator von Gesamtberlin, der seine Stadt von Quartieren säubern wollte "in denen man sich nicht mehr in Deutschland befindet". Und dann als Stellvertreter und Innenminister des Brandenburger Ostrelikts Stolpe und des Nachfolgers Platzeck. Regine Hildebrandt floh aus dem Regierungskabinett, in das Sieger Schönbohm einzog.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland kommentiert das Wort des Ex-Generals, dass "die von der SED erzwungene Proletarisierung" am neunfachen Kindermord schuld sei, hocherfreut: "Treffer". Acht der neun Kinder kamen übrigens seit 1990 um, seit Schönbohms Menschenverachtung den Osten heimsucht. Brutto ist Angela Merkel die Kanzlerkandidatin aus dem Osten - netto kommt Schönbohm dabei heraus.
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