Elisabeth Noelle: Demoskopie nach Allensbacher Art

Umfragen Der unsterblichen Elisabeth Noelle zum 90. Geburtstag
Elisabeth Noelle
Elisabeth Noelle

Foto: Imago/Ex-Press

Sie war gerade 20, als sie der Führer auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden mit Kuchen fütterte. Als Anführerin in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen kletterte sie mit ihrer Gefolgschaft ("Ich hatte eine Zelle von elf Mädchen") auf den Berghof. Adolf Hitler begrüßte alle mit Handschlag ("Er sah ja ungeheuer freundlich aus") und ließ zum Tee auf die Terrasse bitten. Noelle: "Hitler nahm mich am Arm und führte mich an die Brüstung, von der aus man ins Salzburger Land nach Österreich sah." Dann sagte der Führer: "Ich muss euch verlassen, aber jetzt esst mal richtig Kuchen."

So bekannte Elisabeth Noelle es froh am 18. Dezember, einen Tag vor ihrem 90. Geburtstag, in der ARD-Talksendung Beckmann, und so steht es auch in ihren gerade erschienenen Memoiren (Die Erinnerungen, Herbig Verlag 2006). "Wissen Sie diese furchtbaren Judenmorde, das konnte man sich einfach nicht vorstellen, davon war nicht die Rede." - "Wahnsinn", sagte der Fernsehmoderator und fragte, ob sie sich etwa später "Schuldgefühle" zugezogen habe. "Ich war nie mit den Nazis verknüpft", antwortete die Zellenführerin im Nationalsozialistischen Studentenbund, "wir waren in keiner NS-Organisation." Und außerdem hätte man doch "die Bevölkerung nicht mit den Nazis allein lassen" dürfen.

Hexenjagd gegen die Demoskopen

Ich war 26, als mir Elisabeth Noelle-Neumann, die Chefin des Allensbacher Instituts für Demokopie, das erste Mal in dem noch heute nach dem Antisemiten (Der ewige Jude) Henry Ford benannten Bau der Westberliner Freien Universität als Privatdozentin begegnete. Was ich dort am 11.Dezember 1961 in der Vorlesung mitschrieb, erschien zunächst rätselhaft: "Freiburg, Oberbürgermeister, musste schon getragen werden. Diese Umfrage hat Frage aufgeworfen, ob man nach der Krankheit einer Persönlichkeit fragen darf, starke Entrüstung hervorgerufen. Freiburger Umfrage, die erste, gegen die solche Polemik."

Und weiter: "Man versucht, sich eine Position des Vorsprungs zu sichern. Man hat also den Zusammenhang zwischen Zählen und Herrschaft erkannt. Rechtsfrage aufgeworfen, ob Auftraggeber genannt werden muss. Natürlich stellen sich die Interviewer vor, nicht der Auftraggeber. Zwingender Grund: Unbefangenheit des Befragten ginge verloren."

Erst später erschloss sich mir der Hintergrund meiner Vorlesungsnotizen. Elisabeth Noelle hatte im geheimen Auftrag eines innerparteilichen Konkurrenten die Freiburger fragen lassen, ob sie schon gewusst hätten, dass ihr (körperbehinderter) CDU-Oberbürgermeister Brandel krank sei. Sprachen sich darauf die Befragten für den Rücktritt Brandels aus, so wurden sie weiter gefragt, ob er bald oder erst im nächsten Jahr zurücktreten solle. Und dann wurden Alternativkandidaten vorgeschlagen, besonders der heimliche Auftraggeber, der CDU-Stadtrat Albert Maria Lehr - er zahlte für die Noelle-"Umfrage" 20.000 DM.

Als Folge dieses demoskopischen Schurkinnenstücks musste der Oberbürgermeister - so schaffen Umfragen Realitäten - tatsächlich ins Sanatorium. Noelle aber sprach angesichts der öffentlichen Entrüstung von einer Hexenjagd gegen die Demoskopen, wie sie im demokratischen Ausland nicht denkbar wäre.

Sie konnte den Aufruhr nicht begreifen, den ihre zweckmäßige Umfrage hervorgerufen hatte. Und doch spürte sie eigentlich seit zwei Jahrzehnten, seit ihrer Dissertation Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse (1940), die "Verpflichtung", auch "unter europäischen, insbesondere deutschen Verhältnissen den Gedanken der Massenbefragung in irgendeiner Form auszuwerten".

Arbeitslosigkeit segmentieren

Aber natürlich ganz anders als in den USA, das ergebe sich "aus der deutschen Auffassung vom Wesen der öffentlichen Meinung, nach der in den Worten des Reichsministers Dr. Goebbels die öffentliche Meinung ›zum größten Teil das Ergebnis einer willensmäßigen Beeinflussung ist‹." Nichts anderes hatte sie 1961 in Freiburg vollbracht.

Kurze Zeit vor einem für Helmut Kohl entscheidenden Wahlkampf begegnete mir Elisabeth Noelle 1986 wieder. Die steigende Arbeitslosigkeit drohte, den Freund (er hatte ihr dank eines gemeinsamen ordentlichen Frühschoppens mit dem Kultusminister - siehe S. 221 ihrer Erinnerungen - einen Lehrstuhl in Mainz verschafft) wieder aus dem Bundeskanzleramt zu werfen. Doch Dr. Noelle war sich beziehungsweise dem Dr. Goebbels treu geblieben. Sie wusste noch aus ihrer Dissertation: "Das Volk soll sich nicht mehr selbst überlassen werden ... Das Volk soll anfangen, einheitlich zu denken, einheitlich zu reagieren, und sich der Regierung mit ganzer Sympathie zur Verfügung zu stellen." Das war ein Goebbels-Zitat. Doktorandin Noelle fand es so gut, dass sie dem Zitierten "ein zuverlässiges System der Massenbefragung" als ein "Hilfsmittel der Einfühlung in das wahre Wesen des Geführten" anbot. (Am 27. Februar 1987 versprach Elisabeth Noelle vor großem Publikum eine Wiederauflage ihrer Dissertation - in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde dieses Versprechen nicht eingelöst).

Dr. Goebbels wollte Dr. Noelle schließlich zu seiner Adjutantin machen, woran sie eine Krankheit hinderte. Aber das nur nebenbei - wir sind in der traurigen Wirklichkeit des Jahres 1986, als vermehrte Arbeitslosigkeit den Kanzler Kohl bedrängte. Also bedurfte es wieder einmal einer "willensmäßigen Beeinflussung" der öffentlichen Meinung, eines "zuverlässigen Systems der Massenbefragung". Vertrauliches Angebot aus Allensbach an die Industrie: "Jetzt, ein Jahr vor der Bundestagswahl 1987, besteht die Aussicht, dass Arbeitslosigkeit zu einem Schwerpunktthema des Wahlkampfes wird." Dem sei entgegenzutreten: "Es geht dabei zunächst darum, das demagogische Potential der Arbeitslosigkeit zu entschärfen ..."

Und zwar mit demoskopischen Mitteln: "Die geplante Untersuchung soll den Block der Arbeitslosen segmentieren." Segment heißt Teilstück. Zu deutsch: Der große Block der Arbeitslosen sollte so lange zerteilt werden, bis nur noch leicht fassbare Einheiten übrig blieben, gegen die Allensbach zugleich ein umfassendes, aber differenziertes Diffamierungsangebot vorlegen konnte.

Und so wurde an Noelles Institut eifrig segmentiert: Arbeitslos gemeldete Hausfrauen? Die suchen doch in Wirklichkeit keine Arbeit. Zudem: "Die Hausfrauenrolle vermindert die psychologische Belastung der Arbeitslosigkeit für Frauen oder hebt sie sogar ganz auf." Ein anderes Segment speziell bei Dauerarbeitslosen: die gesinnungsmäßig auffällig Hervorgetretenen. Dauerarbeitslose sind extremistisch, protestantisch, atheistisch und treiben sich nachts herum. Als demoskopisch besonders leicht zu bewältigendes Segment unter den Arbeitslosen erwiesen sich für das Allensbach-Angebot die "freiwillig Arbeitslosen". Elisabeth Noelle gab ihre Zahl mit 700.000 an, damals fast ein Drittel: "Alkoholiker, Drogensüchtige, jugendliche Sektenmitglieder" und sonstige Personen, die "nicht einsatzfähig sind".

So war das Forschungsprogramm abgesteckt und das Ergebnis bekannt, bevor man zu forschen begann: "Wir schlagen vom Allensbacher Institut aus vor, dieses Forschungsprojekt durchzuführen, weil die Erkenntnisse der Untersuchung auch verhindern sollen, dass das Thema im zweiten Halbjahr 1986 in der Wahlkampfagitation den Zündstoff liefert."

Natürlich fand Elisabeth Noelle, wie sie mir im August 1986 am Telefon mitteilte, eine Reihe von Verbänden und Großunternehmen, die für ihr Arbeitslosendiffamierungsprojekt zahlten. Namen wollte sie nicht nennen. Ja, gewiss, sie habe ihr Projekt vorher mit Helmut Kohl abgesprochen. "Aber er hat keinen Einfluss darauf genommen", versicherte sie mir.

Noelle-Ewigkeit scheint unabwendbar

Die Frau, die so im Dienste der Großindustrie die Arbeitslosigkeit bewältigte, ist auch im 90. Jahr an Körper und Geist rettungslos gesund. Ganz im Gegensatz zu ihrem ersten Mann Erich Peter Neumann, mit dem sie zusammen im Goebbels-Blatt Das Reich redigierte und 1946 das Allensbacher Institut gründete. Von ihm verabschiedet sie sich in ihren Erinnerungen mit einem Fußtritt. Alkoholiker sei er geworden, im Fernsehen "vollkommen betrunken" aufgetreten. Kurz vor seinem frühen Tod habe er ihr bekannt, "sein ganzes Leben sei verpfuscht, nutzlos gewesen". Als sie die Nachricht von seinem Tod erreichte, sei sie "bei aller Trauer" doch "ein wenig erleichtert" gewesen. Nicht mehr viel habe gefehlt, urteilt Gattin Noelle-Neumann, "und er hätte in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden müssen". Sie heiratete bald einen anderen und blies darob ihren Nachnamen zu dem Ungetüm Elisabeth Noelle-Neumann-Maier-Leibnitz auf. Vor Jahren kehrte sie zum schlichten Noelle zurück, wohl wissend, dass es dabei nicht ewig bleiben kann.

Geblieben ist ein sehr solider Glaube an Engelserscheinungen und - der Führer ist ja schon lange tot - an Schicksalsbestimmung durch den Lauf der Sterne, verbunden mit einer - für ihre Demoskopie unentbehrlich - gediegenen Zahlenmystik. Dies bestimmt schon lange ihr Weltbild. Im Kölner Stadtanzeiger drohte die Frau, die nach ihren Andeutungen auch schon einmal in Ägypten als Nofretete gelebt haben will, zu ihrem 90. Geburtstag mit unentwegter Wiedergeburt: "Ich werde noch ganz oft leben." Wer weiß, wie sehr der unbändige Glaube dieser Demoskopin unsere Realität bestimmt, kann da nur resignieren: die Noelle-Ewigkeit scheint unabwendbar.

Ehrlich erworben aber ist der Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis für ein publizistisches Lebenswerk, den ihr am 3. Dezember in der Spandauer Zitadelle jene uralte Junge Freiheit verliehen hat, für die sie auch gern mal schreibt.

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