Mit 75 ist Schluss

Selektionsgelüste Eine neue Sozialethik trennt wertvolles von weniger wertvollem Leben

Agenda 2010? Mein Dudenwörterbuch verrät: eine Agenda ist zuallererst ein "Merkbuch, in das zu erledigende Dinge eingetragen werden".

Jetzt merke ich. Das Ding bin ich. 2010 bin ich erledigt. Lebensunwert. In sechseinhalb Jahren, am zehnten Tag des Jahres 2010 werde ich 75 Jahre alt. Vorletzte Woche habe ich erfahren, dass ich dann eine menschliche Altlast bin, die nach Meinung zweier maßgebender Experten ohne weiteren Aufwand entsorgt werden kann. Meine rein persönliche Agenda sah anders aus. Ich wollte unbedingt älter als Jünger werden. Ernst Jünger - Vorbild aller Krieger - war 102 Jahre alt geworden, da möchte ich gern als friedlicher Mensch 103 werden. Daraus wird voraussichtlich nichts.

Das jedenfalls wollen zwei wichtige Professoren, Sachverständige, die Report Mainz nach ihren Reformplänen befragte. Die lassen sich knapp so zusammenfassen: Wer mit 75 reich ist, darf bleiben, wer arm ist, soll schneller sterben.

Von dem Konstanzer Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Breyer konnte man kaum etwas anderes erwarten. Der Professor sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, in dem jetzt der Sozialdemokrat Wolfgang Clement für den Abbruch des Sozialstaates zuständig ist. Doch den Bochumer Theologie-Professor für christliche Sozialwissenschaften Joachim Wiemeyer hätte man mit solch einem Selektionsverfahren nicht in Verbindung bringen dürfen. Er ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Professoren für Christliche Sozialethik in Deutschland, Vorsitzender der Sachverständigengruppe "Weltwirtschaft und Sozialethik" der Deutschen Bischofskonferenz und auch noch Berater ihrer Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen.

Beide, der Wirtschafts- und der Theologieprofessor, treten nun dafür ein, dass den Menschen ab 75 keine aufwendigen Eingriffe wie Herz- oder Krebsoperationen mehr von der Krankenkasse bezahlt werden. Nur ein paar Tabletten zur Schmerzmilderung bis zum Exitus sind noch drin.

Die deutsche Bischofskonferenz hatte zu dem Selektionsprogramm ihres Ethikberaters vorläufig erklärt, dass "Herr Prof. Wiemeyer hier ausschließlich seine private Auffassung vertritt". Woraus man schließen durfte, dass die Deutsche Bischofskonferenz ethisch so gestaltet ist, dass sie einerseits - wie sie versichert - "immer für den Schutz des menschlichen Lebens eintritt" und sich andererseits einen ethischen Berater hält, der das damit gar nicht so genau nimmt, privat, wie sie auch versichert, was die "Altersbegrenzung für medizinische Leistungen betrifft".

Endlich, zehn Tage nach der Sendung, gab die Pressestelle der Bischöfe bekannt, dass Professor Wiemeyer von sich aus als Berater der Bischofskonferenz zurückgetreten sei und zwar nicht wegen seiner Selektionsgelüste für alte Menschen, sondern aufgrund von "Belastungen und Irritationen, die durch diese Sendung entstanden". Durch diese Sendung.

"Es ist gerecht, bestimmte teure medizinische Leistungen ab einer bestimmten Altersgrenze nicht mehr vorzusehen, sondern sich in solchen Fällen etwa auf eine Behandlung akuter Schmerzen zu beschränken", schrieb Ethiksachverständiger Wiemeyer jedoch schon im Dezember vergangenen Jahres in der katholischen Herder-Korrespondenz.

"Es geht hier nicht um Mitleid mit den Älteren, sondern ältere Menschen müssen ja auch fragen, wie haben sie ihr Leben gestaltet, wofür wollten sie in ihrem Leben Geld ausgeben", bestätigte der bischöfliche Berater damals in einem Interview mit dem WDR-Morgenecho. Professor Breyer, sein Kompagnon beim Ausschalten weniger wertvollen Lebens, verteidigte am Tag nach Wiemeyers freiwilligem Rücktritt ausdrücklich das Selektionsprogramm, "künftig bestimmte Leistungen nach dem Kriterium Lebensalter aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherungen zu entfernen". Das erklärte er dem Rheinischen Merkur, der von der katholischen Kirche mitfinanziert wird. Und er betont dort, wie gut er sich vorstellen könne, "dass bei der Altersgrenze von 75 Jahren ein deutlicher Effekt eintritt".

2010, wenn ich 75 bin, bleibt mir nichts anderes übrig: ich werde zu meinem katholischen Kinderglauben zurückkehren. Damit wenigstens der liebe Gott, wenn ich dann in den letzten Zügen liege, ein bisschen Mitleid mit mir hat.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden