Reinigungsrituale

ENTSCHÄDIGUNG Wie man sich der Vergangenheit entledigt

Am 1. September, dem Tag, an dem Deutschland vor sechzig Jahren den Zweiten Weltkrieg begann, sollten die ersten Auszahlungen aus dem Versöhnungsfond der deutschen Wirtschaft »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« beginnen. Doch Deutschland, in Anspruch genommen von seinem unumgänglichen dritten Krieg gegen die Serben - an der Seite der USA, deren Regierung wohl verstanden hat, wer am 6. April 1941 Recht hatte - wurde in seinem ziemlich ehrlichen Bestreben, die Vergangenheit zu bewältigen, aufgehalten.

Was sich Konrad Adenauer und Hermann Josef Abs vor 46 Jahren ausdachten, hat lange gehalten: der Bankier sorgte 1953 als deutscher Verhandlungsführer beim Londoner Schuldenabkommen im Einvernehmen mit dem Kanzler dafür, dass die Zwangsarbeiter der deutschen Industrie weder ihren Lohn noch eine Entschädigung bekamen. Eine Regelung solcher Ansprüche sollte einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben. Mit dieser Begründung wiesen deutsche Gerichte alle Ansprüche von Zwangsarbeitern jahrzehntelang zurück: zu früh. Als sich dann die Bundesrepublik die DDR einverleibte, gab es immer noch keinen Friedensvertrag, aber eine andere Argumentation, wie sie am Montag dieser Woche auch das Stuttgarter Landgericht allein schon gegen den Antrag dreier Tschechen auf Prozesskostenhilfe benutzte. Der Anspruch der ehemaligen Zwangsarbeiter gegen Daimler-Chrysler auf Schmerzensgeld, Schadenersatz und Wertersatz sei »verjährt«.

Geduld - der Anspruch kommt zu früh. Verzicht - der Anspruch kommt zu spät. Das war, das ist die Antwort Deutschlands auf die Ansprüche der überlebenden Zwangsarbeiter, warum auch sind sie nicht umgekommen? Im übrigen sind solche Forderungen gegenüber Daimler-Chrysler besonders unverschämt. Erstens haben die Daimler-Manager genug damit zu tun, dass ihre Millionenbezüge auf die weit höheren Einkommen der angeschlossenen Chrysler-Manager angehoben werden. Zweitens kann eine halbe US-Firma doch keine Entschädigung an die Zwangsarbeiter der Deutschen zahlen. Und drittens ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass der deutsche Staat Prozesskostenhilfe gegen den wichtigen Standortfaktor Daimler zahlt - woher soll er's nehmen: Daimler zahlte schon vor der Fusion mit Chrysler seit Jahren keine Ertragssteuern mehr.

Seit der Chefarisierer der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, im Auftrag Adenauers auch die »Wiedergutmachungs«-Verhandlungen mit Israel führte, ist man sich einig. Am 5. April 1952 erklärte Adenauer im Kabinett, Zahlen könne man sich sparen, die Juden betrögen uns ja doch. Damals erwogen Abs und Adenauer zunächst, Israel als angemessene Wiedergutmachung für den Holocaust zehn Millionen Mark für ein Krankenhaus zu stiften. Als Israel eine Milliarde Dollar forderte, gab es am 20. Mai im Kabinett - so Staatssekretär Otto Lenz - »eine erregte Debatte über die Berechtigung der jüdischen Forderungen«. Die Empörung über die Juden legte sich erst, als die Wiedergutmachung in Form von Sachlieferungen zum Konjunkturmotor für die deutsche Industrie wurde.

Die Bundesregierung, die ihren bisherigen hocherfahrenen Verhandlungsführer bei der Entschädigung von Zwangsarbeitern dringend als deutschen EU-Protektor auf den Balkan schicken musste, hat im Grafen Lambsdorff einen gleichwertigen Ersatzmann gefunden, der dank der besonderen Flick-Umstände (seine Vorstrafe wegen Steuerhinterziehung) das besondere Vertrauen der deutschen Wirtschaft genießt, und dank seines Alters Bodo Hombach an historischer Erfahrung im gesellschaftlichen Umgang mit NS-Verbrechern (wie Himmlers rechter Hand Werner Best) übertrifft.

Immerhin hat sich im Laufe der Jahrzehnte in Lambsdorff ein Erkenntnisprozess vollzogen: »Es existiert in der Tat eine moralische und historische Verpflichtung der deutschen Wirtschaft«, verkündete er letzte Woche auf seiner Pressekonferenz zur weiteren Verschiebung der Verhandlungen mit seinem US-Partner Stuart Eizenstat auf Oktober. Er verriet aber auch, was seinen Erkenntnisprozess zu fördern in der Lage war: »Sie wissen, dass in den USA mittlerweile über hundert Sammelklagen gegen deutsche Firmen anhängig sind. Die gleichen Firmen sind Boykottaufrufen und diskriminierenden Gesetzen in den einzelnen Bundesstaaten ausgesetzt. Eine solche Diskussion kann den Unternehmen und der deutschen Wirtschaft insgesamt große Imageschäden zufügen.«

Zufügen nicht mehr - sie sind da. Aber richtig ist, dass allein die Angst um den Export und die Furcht vor den US-Gerichten die deutschen Konzerne dazu veranlassen kann, doch noch ihre Schulden an die Zwangsarbeiter zu bezahlen.

»Deutlich«, wie er selbst einräumte, sagte es Lambsdorff den Zwangsarbeitern: »In kriegsbedingten Zeiten sind alle mehr oder weniger unerfreulichen Einschränkungen unterworfen.« Deshalb könnte nur das, was er »besondere Leiden« nennt, berücksichtigt werden. Die Zahlen der Opfer-Anwälte seien »abwegig« und könnten nur dazu führen, dass »jedes deutsche Unternehmen es sich zweimal überlegt, bevor es sich auf Stiftungsinitiative einläßt«.

Deswegen sei er aber auch seinem Verhandlungspartner Eizenstat besonders dankbar, dass er seit Monaten in intensiven Gesprächen mit der Bundesregierung, aber auch mit dem eigenen Justizministerium darum bemüht sei, »adäquate Lösungen« zu finden, um »den Rechtsfrieden wiederherzustellen«.

Wie wird der durch den Boykott und die Anklage gegen deutsche Firmen verletzte Rechtsfrieden wiederhergestellt? Durch eine - so der rechtskundige Liberale - »Bereitschaft der amerikanischen Regierung, in laufenden Prozessen vor amerikanischen Gerichten entscheidend Einfluß zu nehmen.« Er räumt ein, das wäre »auch in Deutschland kein einfacher, kein selbstverständlicher Vorgang«. Richtig, früher genügte hier die Institution des Richterbriefes vom Reichsjustizministerium, heute kann man sich auch bei uns nicht mehr auf jeden einzelnen Richter verlassen.

Am 6. September will sich Lambsdorff in Begleitung von Industrievertretern - natürlich nicht von ehemaligen Zwangsarbeitern oder ihrer Anwälte - mit Kanzler Schröder beraten, bevor einen Monat später seine Gespräche mit Eizenstat in den USA weitergehen. Es ist natürlich völlig unvorstellbar, dass ein sozialdemokratischer Kanzler modernen Typs sich in solchen Angelegenheiten selbst mit Vertretern der Opfer berät, und einen Mann aus den Gewerkschaften zu seinem Verhandlungsführer macht.

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