Rot und Schwarz auf Weiß

Du warst nicht Deutschland Der 100. Geburtstag der Weltbühne findet in den Kompetenzmedien nicht statt

Hermann Weinkauff, der erste Präsident des Bundesgerichtshofes, beschwerte sich im Juli 1962 beim Bundesjustizminister über einen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: Hier werde der "Weltbühnen-Ton der 20er Jahre gegen die Justiz imitiert". Die Süddeutsche hatte die Ernennung des ehemaligen Reichsanwalts und NS-Fanatikers Walter Fränkel zum Generalbundesanwalt kritisiert - Präsident Weinkauff war selbst seit 1935 Richter an jener Institution, die schon in der Weimarer Republik den größten Ärger mit der Weltbühne hatte, dem Reichsgericht.

Das war - jetzt nachzulesen in Marc von Miquels Untersuchung über die Vergangenheitspolitik der westdeutschen Justiz (Ahnden oder Amnestieren, Wallstein Verlag) - vor 43 Jahren eine von vielen Stimmen, für die ein Blatt wie die Weltbühne ganz selbstverständlich als Synonym der Zersetzung von Staat und Gesellschaft figurierte.

Im September hatte die Weltbühne nun ihren 100. Geburtstag. Er wurde natürlich in allen großen Feuilletons dieser Republik begangen. Ja? Nein.

Nichts in der Süddeutschen, der einst der Präsident des Bundesgerichtshofes die Ehre des Vergleichs antat. Nichts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland, deren Gründungsherausgeber Erich Dombrowski (1949 - 1962) acht Jahre lang als "Johannes Fischart" und "Felix Pinner" ein wichtiger Mitarbeiter der Weltbühne war - er habe früher "auch in angesehenen Zeitschriften" geschrieben, erwähnte die FAZ einmal undetailliert in einem Artikel zu seinem 85. Geburtstag. Nichts - das allerdings ist merkwürdig - in der Frankfurter Rundschau und nichts im vierten großen überregionalen Blatt, der Welt - das versteht sich. Und im großen liberalen Kompetenzorgan - in der Zeit - schon gar nichts.

Jacobsohns Gelöbnis

Beugen sie sich alle dem Urteil der Wissenschaft? Ein durchaus liberaler Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, der als Erfinder der "Bielefelder Schule" zur "strukturgeschichtlichen Analyse historischer Abläufe" zu Recht in den Brockhaus eingegangen ist, kommt im zuletzt erschienenen Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte zu einem erschreckenden Ergebnis: die Weltbühne habe von einer "gesinnungsethisch linke(n) Position" die Weimarer Republik - "manchmal zu Recht", gewiss - "noch häufiger aber gnaden- und alternativlos kritisiert". Alternativlos? Heute ein beliebtes Wort. Allerdings ging die Weimarer Republik daran zugrunde, dass ihre führenden Politiker am Ende dort keine Alternative mehr zur Adolf Hitler sehen wollten, wo die Weltbühne sie bis zuletzt noch sah. "Aus historischer Perspektive" aber, so urteilt der Geschichtsforscher aus Bielefeld, habe die Weltbühne mit einer "tendenziell destruierenden Wirkung" besonders unter ihrem letzten Redakteur Carl von Ossietzky zu der "inneren Aushöhlung und Auflösung jener immer heftiger geschmähten Republik" beigetragen.

Die Weltbühne, gegen die bis heute nachwirkend ein sachverständiges Kompetenzteam vom Bundesgerichtshofspräsidenten aus dem Reichsgericht bis zum Strukturhistoriker der deutschen Gesellschaftsgeschichte ein ungeheuer ehrliches Zeugnis ablegt - sie ist älter als die Weimarer Republik. Am 7. September 1905 erschien in Berlin die erste Ausgabe der Schaubühne, wie sie sich damals noch nannte. Sie wurde von dem 24jährigen und schon berühmten Kritiker Siegfried Jacobsohn zunächst als reine Theaterzeitschrift gegründet. Doch schon acht Jahre später anlässlich des "Menetekels Zabern" - der Kapitulation der zivilen Regierung vor dem wüst um sich schlagenden preußischen Militarismus - da gelobte er, dass "wir jetzt nicht mehr nur die Welt bedeutenden Bretter, sondern auch die Welt selbst betrachten wollen. Wir betrachten zunächst die deutsche Welt, und sie reizte uns zu heftigstem Widerspruch". Ein Jahr nach dem Menetekel hatte Deutschland jenen Krieg zustandegebracht, den man als Ersten Weltkrieg bezeichnete.

Jacobsohn lavierte sein Blatt - unvermeidlich auch mit Konzessionen an die Militärzensur, die allerdings nicht alles verstand, was da zu lesen war, durch die Kriegsjahre. Und am 4. April 1918 benannte er die Schaubühne durchaus programmatisch um zur Weltbühne.

Dieser Prozess der Politisierung des Blattes lässt sich vorzüglich ablesen in einer fünfbändigen Auswahl der Werke Siegfried Jacobsohns, die jetzt zum 100. Geburtstag der Schau-/Weltbühne im Göttinger Wallstein-Verlag erschien.

Tucholskys Intermezzo

Schon im März 1919 stand in der "Antworten"-Rubrik der Weltbühne eine heftige Kontroverse mit Gustav Noske. Die Verhängung des Standrechts durch den SPD-Reichwehrminister hatte dazu geführt, dass seine Soldateska umstandslos Leute erschoss, die sie mit dem Mitgliedsbuch der USPD antraf. Jacobsohn: "Wir brauchen eine zweite Revolution. Nein: wir brauchen eine Revolution."

In seinem Kampf gegen eine republikvergessene Sozialdemokratie wahrte Jacobsohn die Menschlichkeit. Als der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, der 1918/19 zusammen mit den Generälen Wilhelms II. die Revolution unterdrückt hatte, 1925 gestorben war, ist es die Weltbühne, die sich seiner Witwe annimmt, "weil der Staat sich ihr gegenüber ausgesprochen schofel verhielt, sie bekam eine Rente, die weit unter der für abgedankte Kaiserliche Generäle lag". So berichtete der langjährige Weltbühnen-Mitarbeiter Axel Eggebrecht.

Jacobsohn starb früh, 1926, mit nur 45 Jahren. Nach einem Intermezzo mit Kurt Tucholsky als Herausgeber übernahm Carl von Ossietzky die Leitung der Redaktion. Er hielt weiter Kurs gegen die Fememörder der Freikorps, gegen die Schwarze Reichswehr mit ihren geheimen Waffenlagern und gegen eine Justiz, die alles deckte, gegen einen Staat, der seine demokratische Verfassung verleugnete.

Ossietzky kam von einer Zeitschrift, die der Historiker Wehler übrigens aus seiner speziellen geschichtlichen Perspektive als vorbildhaft betrachtet: "Ungleich abgewogener, gerechter und politisch klüger urteilte dagegen der linksliberale Leopold Schwarzschild, der seit 1922 den Kurs des Tagebuchs [sic] bestimmte." Und in der Tat, das von Leopold Schwarzschild und Stefan Großmann herausgegebene Tage-Buch unterschied sich von der Weltbühne.

Das allerdings wusste Carl von Ossietzky, der im April 1924 Tage-Buch-Redakteur wurde, bevor er Ende des Jahres freudig zur Weltbühne ging, mutmaßlich besser als der Bielefelder Historiker, den bekanntlich eine Allergie gegen den Staub der Archive plagt und der deshalb gern sein gesundes Urteil an die Stelle von gesichertem Wissen setzt. Berthold Jacob, der zusammen mit Ossietzky 1929 im so genannten Feme-Prozess verurteilt wurde, hat 1937 aufgeschrieben, wie es dem späteren Weltbühne-Herausgeber als Redakteur des Tage-Buchs erging: "Dort ließ man ihm wenig Bewegungsfreiheit... Zudem stießen sich Ossietzkys Auffassungen von der Gefahr nationalistischer Reaktion an den Meinungen des einen der Tage-Buch-Herausgeber, der damals bestimmend war: Stefan Großmann. Im Tage-Buch wurde die ›schwarze Reichswehr‹ als Studentenulk bagatellisiert, und die ehemaligen Kriegsgegner wurden ob der Angst verhöhnt, die ihnen das entwaffnete Deutschland einflöße. Überhaupt war man dort sehr national und schwärmte von Ebert und Severing sehr viel mehr als billig gewesen wäre. Ossietzky litt unter diesen Erscheinungen, ohne sie ändern zu können."

Aber da muss er wohl an Phantomschmerzen gelitten haben, denn Wehler hat sein unanfechtbares Wissen niedergebracht im Band 1152 der angesehenen Suhrkamp-Edition unter dem langen und darum unmissverständlichen Titel: Leopold Schwarzschild contra Carl von Ossietzky - Politische Vernunft für die Verteidigung der Republik gegen ultralinke "System"-Kritik und Volksfront-Illusionen. Es handelt sich um die Wiedergabe eines Reklame-Vortrags für den Reprint des Tage-Buchs - eines Vortrags,den Wehler im April 1981 im Hamburger Atlantic-Hotel hielt.

Von Schleichers Angebot

Wehler hatte da einen ganz besonderen Einfall, mit welcher Erscheinung man die Weltbühne noch vergleichen könnte und zugleich mit dem Dementieren eines solchen Vergleichs umso besser dafür sorgt, dass er im Gedächtnis haften bleibt: "Wenn man sie auch - was die Stoßrichtung und den Charakter der Argumente angeht - mit der fundamentalistischen Republikfeindschaft der rechtsradikalen Nationalsozialistischen Monatshefte nicht vergleichen darf, die - um mit einem Schlüsselbegriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen zu sprechen - in der Tat eine ›zersetzende‹ Wirkung auslösten."

Und da er schon im Jargon der Nazimonatshefte angelangt war, beklagte er bei Ossietzky eine "Gefühlsduseligkeit der Volksfrontromantik", weil der bei aller Kritik an den Kommunisten dazu aufforderte, die alternativlosen Nazis durch ein Zusammengehen von KPD und SPD aufzuhalten.

"Angesichts dieser Verwirrung des politischen Urteils bleibt es mir", so Wehler, "schlechterdings unverständlich, warum eine neue westdeutsche Universität" - im Geburtsort Oldenburg - "ausgerechnet nach Carl von Ossietzky benannt werden sollte."

Solches Unverständnis teilt Wehler mit angesehenen Parteien. Als die Universität Hamburg, die inzwischen ihre Bibliothek auch nach Ossietzky benannt hat, 1963 zu dessen 25. Todestag zu einer Gedenkfeier einlud, sagte die CDU ab. Begründung: der Mann sei doch schon 1931 vom Reichsgericht wegen Landesverrats verurteilt worden, so einen könne man nicht ehren. Das war korrekt vom Standpunkt einer Partei, die hauptverantwortlich dafür war, dass nicht nur die Nazirichter des Reichsgerichts an den höchsten Gerichten der Bonner Demokratie wieder ihr Recht sprachen.

Landesverrat? Aber ja doch! Die Weltbühne hatte die geheime Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee attackiert und in der Ausgabe vom 12. März 1929 erschien der Artikel Windiges aus der deutschen Luftfahrt über die Abteilung M (für Militär) der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, die unter Bruch des Versailler Vertrages Kampfflugzeuge entwickelte, die im Ausland erprobt wurden. Am 23. November 1931 wurde Ossietzky in einem Geheimverfahren vom Reichsgericht zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt wegen Landesverrats - blieb aber zunächst auf freiem Fuß, weil die Obrigkeit Aufsehen vermeiden wollte. Das Reichsgericht legte allen Beteiligten Schweigepflicht auf. Ossietzky fragte in seinem Blatt: "Ist die Reichsregierung bereit, die Urteilsbegründung bekanntzugeben? Hält sie ein Geheimverfahren für geeignet, das Vertrauen des Volkes in die deutsche Rechtsprechung zu stärken."

Bald darauf erschien in der Redaktion ein hoher Offizier - es war der spätere Reichskanzler Kurt von Schleicher - und erkundigte sich liebenswürdig nach Ossietzkys Befinden, ihm sei doch wohl ein Urlaub zu gönnen, und versuchte, ihm einen Reisepaß zu überreichen. Vergebens: Ossietzky, der laut Wehler vergessen hatte, dass "die Verantwortungsethik demokratischer Journalisten" sie die "Grenze zur prinzipiellen Staatsfeindschaft nicht überschreiten lassen" darf - er floh nicht. Er trat am 10. Mai 1932 seine Strafe an und verabschiedete sich am Gefängnistor von den über hundert Mitarbeitern und Freunden, die ihn begleitet hatten: "Ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin."

Das blieb er - auch als er nach der Machtübergabe an Hitler ins KZ Esterwege eingeliefert wurde. 1932 hatte er die ihm angebotene Flucht vor dem Gefängnis abgelehnt. 1936 verweigerte er sich der Freiheit, die ihm die Nazis anboten, wenn er nur den Friedensnobelpreis zurückwiese, der ihm aus Stockholm verliehen wurde. So starb er 1938 an den Folgen seiner KZ-Haft.

Otto Köhler war kurze Zeit Mitarbeiter der 1993 nach Titelstreitigkeiten vom Aufbau Verlag eingestellten Weltbühne und ist Mitherausgeber des Nachfolgeorgans Ossietzky.

Er spricht am 7. Oktober, 15.00 Uhr im Berliner Filmtheater Babylon/Rosa-Luxemburg-Straße 30 zum Thema: 15 Jahre Großdeutschland.

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