Was die Akten sagen, was sie nicht sagen

Günter Wallraff und Martin Broszat Ein Versuch zu vergleichen, was nicht zu vergleichen ist

Vielleicht sollte man sich das Ganze so vorstellen. Bei der Überprüfung der Rosenholtz-Dateien entdecken wir den IM Historiker. Die Eintragung auf einer Karteikarte lässt keinen Zweifel: Name, Adresse, Alter, alles stimmt. Es handelt sich zweifelsfrei um Martin Broszat, den langjährigen Leiter des hochangesehenen Instituts für Zeitgeschichte in München.

Natürlich versuchen nun die Freunde und Schüler des inzwischen verstorbenen Broszat uns zu erklären, der Historiker habe nie zu erkennen gegeben, dass er etwas von seiner Eintragung als Stast-IM wusste, sie halten das für völlig unglaubwürdig. Sie wären nicht einmal auf die Idee gekommen, ihn so etwas zu fragen. Wie hätte auch der Sohn eines frommen evangelischen Postinspektors jemals für den Staatssicherheitsdienst arbeiten können. Was besage schon die auf seinen Namen ausgestellte Karteikarte mit der Nummer 9994096. Schließlich ist der originale Aufnahmeschein mit seiner Unterschrift nicht mehr vorhanden - den hat die Stasi geschreddert.

Die typischen Ausreden eben, die wir längst kennen. Am tollsten das Argument, dass Broszat in einem kleinen autobiographischen Text kein Wort über eine Unterschrift für die Stasi geschrieben habe, schließlich wäre ihm doch solch eine feierliche Verpflichtung im Gedächtnis geblieben. Kurz, nichts spreche dafür, das Martin Broszat wirklich ein Agent der Stasi war.

Das ist richtig, er war nie Stasi-IM. Das Ganze ist aufgelegter Unsinn. Ich habe in meiner Voreingenommenheit einen Artikel in der Zeit völlig falsch gelesen. Dort verteidigt der hochangesehene Bochumer Historiker Norbert Frei, einst beim Institut für Zeitgeschichte, seinen damaligen Direktor Martin Broszat, gegen den durch die Mitgliederkartei der NSDAP belegten Verdacht, er sei Mitglied der Nazipartei gewesen. Und kommt zu der Schlussfolgerung: "Nach Lage der Dinge ist es unwahrscheinlich, dass Martin Broszat von seiner Parteiaufnahme wusste."

Nach Lage der Dinge muss aber Günter Wallraff gewusst haben, dass er Spitzel der Stasi war. In derselben Nummer, in der Norbert Frei Martin Broszat entlastet, greift Zeit-Redakteur Jörg Lau den - so die Überschrift - "Partisan Wallraff" an. Er schreibt: "Günter Wallraff soll nach Stasi-Akten als IM Wagner tätig gewesen sein. Wallraff entgegnet, er sei bei seinen Kontakten zu den DDR-Offiziellen nie "eine Verpflichtung eingegangen".

"Das mag sein", konzediert hier der Zeit-Redakteur großzügig - oder vorsichtig. Denn die Welt hat inzwischen eine einstweilige Verfügung gegen den Vorwurf bekommen, dass Wallraff Stasi-Agent gewesen sei. Zwar verkündete der Springer-Verlag sofort: Wir beweisen das und erhob Einspruch vor Gericht. Verhandlungstermin an diesem Freitag. Doch schon am vergangenen Montag tönte die Welt zaghaft: "Es bedarf mehr als einstweiliger Verfügungen, um einen großen Ehrenhändel aus der Welt zu schaffen, der einst die Teilung des Landes bis in die westdeutschen Eliten hineintrug." Und zog den Einspruch gegen Wallraffs einstweilige Verfügung zurück. Die Welt kann - trotz bester Beziehungen zur Birthler-Behörde - nicht beweisen, dass Wallraff ein Stasi-Agent war.

Aber, so wiederum der Zeit-Redakteur, die Debatte sei nicht erledigt: "Sie fängt gerade erst an." Schließlich habe Wallraff "einen privaten Ein-Mann-Geheimdienst betrieben." Und wenn man seine Bücher wieder lese, werde man erstaunt sein, "wie durchdringend überall der Generalbass des Faschismusverdachts wummert. Ungerechtigkeit, Dummheit und Manipulation werden durchweg als Widerschein des NS-Unrechts oder als Vorschein eines Vierten Reiches dramatisiert." Der Mann, der Wolf Biermann nach seiner DDR-Ausbürgerung aufgenommen hatte, war - Stasi-Unterschrift oder nicht - "Partisan im Weltbürgerkrieg". Härteste Anklage, zu der der Mann von der Zeit fähig ist: "Ekel löste der Kontakt mit Bild-Redakteuren aus, nicht der Handschlag für den Stasi-Oberst." Wenn das so sein sollte, lässt es sich leicht erklären. Der Mann, der Hans Esser war, kannte Bild von innen, nicht die Stasi.

Wallraff sagt, dass er nicht wusste, dass seine Kontaktleute in den Ostarchiven bei der Stasi waren. Aber er heißt eben nicht Broszat, sondern Wallraff. Und darum dürfen wir ihm nicht glauben. Und eines ist sicher - so steht es in der Zeit: Auch wenn der von "westdeutschem Selbsthass" durchdrungene Wallraff gar nicht vom Osten gesteuert war: "Er zeigt, dass es der Steuerung gar nicht bedurfte." Der "Partisan" hat - und das ist schlimm - aus eigenem Antrieb mit Hilfe von Dokumenten aus dem Osten viele ehrbare Menschen in allerhöchsten Stellungen dem Naziverdacht ausgesetzt.

Gut, dass man da bei der Zeit verlässlich zu unterscheiden gelernt hat, zwischen links und rechts: Während man auf Seite 45 getrost unterstellen darf, dass Wallraff als oder zumindest wie ein fanatischer IM bewusst tätig war, kann auf Seite 50 "nach Lage der Dinge" einfach nicht wahr sein: Dass der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte von seiner Aufnahme in die NSDAP tatsächlich irgendetwas gewusst habe, ja dass er sie verschwiegen habe. Norbert Frei: "Verschweigen kann ein Mensch nur, was er weiß, beschweigen nur, was ihm bewusst ist."

Der Bochumer Professor für Neuere und Neueste Geschichte "beschweigt" dabei bewusst ein Buch, das die Diskussion über die NSDAP-Mitgliedschaft des Zeitgeschichtsdirektors Martin Broszat erst ausgelöst hat. Und dabei ist der Vorwurf einer NSDAP-Mitgliedschaft der geringste, den Freis jüngerer Kollege Nicolas Berg in seinem umfangreichen Band Der Holocaust und die westdeutschen Historiker erhebt, gegen Martin Broszat, gegen das Institut für Zeitgeschichte und gegen die westdeutschen Historiker der frühen Jahre dieser Republik. Frei erwähnt das Buch mit keinem Wort - ein Schweigen, das für die Zwecke seiner Wahrheitsfindung unentbehrlich ist.

"Davon, dass er seit 1944 als Parteimitglied geführt wurde, wussten wir nichts", schreibt Frei und fragt: "Wusste er es selbst?" Ach woher, denn in "einem kleinen autobiografischen Text zum Jahrestag des Kriegsendes" habe Broszat 1985 nichts darüber geschrieben, nur über die "konträren Erziehungseinflüsse (christliches Elternhaus kontra Hitlerjugend)". Und es möge ja durchaus sein, dass Broszat "zu Jahresanfang 1944 im Kreis seiner HJ-Kameraden einen Antragsschein, wie freiwillig auch immer, unterschrieb; denkbar bleibt freilich auch, dass es sich um das Werk eines unter Quotendruck stehenden HJ-Oberen handelte. Wir können darüber heute nur noch spekulieren."

Geht es im Fall Broszat nur um die NSDAP-Mitgliedschaft eines 18jährigen, die nebenbei sicherer nachgewiesen ist als eine IM-Tätigkeit Wallraffs? Wallraff sieht sich - das spricht der Zeit-Redakteur auf Seite 45 offen aus - dem Vorwurf ausgesetzt, NS-Vergangenheiten in der Bundesrepublik aufgedeckt zu haben. Broszat aber, das unterschlägt Professor Frei gewissenhaft in der Zeit, wird in Bergs Buch - und nur darum ist seine NSDAP-Mitgliedschaft dokumentiert - mit dem Vorwurf konfrontiert, die Karrieren von NS-Tätern in der Bundesrepublik entschuldigt und zugedeckt zu haben.

Ein Beispiel von vielen: Joseph Wulf, der jüdische Historiker, der Auschwitz überlebte, hatte in den fünfziger Jahren als erster umfangreiche Dokumentensammlungen über NS-Täter veröffentlicht. Der Chef des Bundesgesundheitsamtes Wilhelm Hagen verklagte Wulf, weil er in seinem 1961 erschienenen Band Das Dritte Reich und seine Vollstrecker schrieb, dass Hagen sich 1942 als Leiter des Warschauer Gesundheitsamtes um sein berufliches Ethos als Arzt nicht im mindesten scherte. Dr. Hagen habe von den monströs niedrigen Lebensmittelzuteilungen und von katastrophalen Wohnverhältnissen der im Ghetto zusammengepferchten Juden gewusst, aber die jüdischen Ärzte mit Todesstrafe bedroht, falls sie die Typhusgefahr im Ghetto nicht abwenden. Wulf: "Diese Ärzte sind dann mit ihren Patienten umgebracht worden."

Broszat hatte kurz nach der Wulf-Veröffentlichung in einem schmalen Buch Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945 die Zivilverwaltung als eine Institution dargestellt, die im "Gegensatz zu den unsinnig provozierenden und zerstörerischen Prinzipien" der SS- und Polizeiführer ihr Bemühen hauptsächlich danach ausrichtete, "Linderung der schlimmsten Notstände" zu erwirken. Hagen habe eine sehr positive Rolle bei der Gleichbehandlung deutscher und polnischer TBC-Patienten gespielt. Alles entsprechend der Linie der offiziellen zeitgeschichtlichen Forschung: Schuld war allein die SS, und der hatte der spätere Chef des Bundesgesundheitsamtes nicht angehört.

Da war belanglos, ja kontraproduktiv, dass Wulf auch auf ein Schreiben an Hitler von 1942 verweisen konnte, in dem sich Hagen für die "arischen Polen" eingesetzt und dagegen protestiert hatte, mit ihnen "so zu verfahren wie mit den Juden, das heißt, sie zu töten." Dass Hagen es somit für selbstverständlich hielt, Juden zu töten, störte Broszat nicht. Als Hagen, der inzwischen auch noch zum Honorarprofessor an der Universität Bonn ernannt worden war, Wulf verklagte, stellte sich Broszat auf seine Seite und bescheinigte ihm "hartnäckigen Widerstand gegen die von SS und Polizei befohlene Gesundheitspolitik in Warschau".

An Hagen, der das Institut für Zeitgeschichte um Hilfe gebeten hatte, schrieb Broszat: "Ich darf Ihnen versichern, dass wir selbst entsetzt sind über den Missgriff in Wulfs Buch." Und an Wulf schrieb er im Namen des Instituts: "Wir halten diese ganze Angelegenheit im Interesse der Sauberkeit zeitgeschichtlicher Dokumentation und Publizistik für außerordentlich bedauerlich und würden es deshalb begrüßen, wenn Sie von sich aus Schritte unternehmen könnten, die Herrn Prof. Hagen Genugtuung verschaffen." Aufgrund eines Gutachtens des Instituts für Zeitgeschichte endete der Prozess mit einem Vergleich. Wulf musste die beiden gut belegten Seiten über Hagen aus seinem Buch entfernen. Die ständigen Auseinandersetzungen mit Broszat, dem Institut für Zeitgeschichte und anderen bundesdeutschen Zeithistorikern zermürbten Wulf so sehr, dass er sich 1974 aus dem Fenster in den Tod stürzte.

Das alles verschweigt der damals noch junge Zeithistoriker Norbert Frei, der heute nachweist, dass Martin Broszat nicht gewusst haben dürfte, dass er NSDAP-Mitglied war. Zugleich sinniert der Zeit-Redakteur über Wallraffs "abgrundtiefen westdeutschen Selbsthass" und über "dieses merkwürdige Land, in dem erstmals in der deutschen Geschichte das Dagegensein als akzeptierte Form von Dabeisein" kultiviert worden sei: Sein Fazit: "Wer das für eine Errungenschaft hält, muss aber auch über die weit verbreitete strategische Kumpanei mit der SED-Diktatur reden, über die politische Blindheit, die derselben Quelle entsprang."

Zum Weiterlesen: Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Wallstein Verlag Göttingen 2003, 766 Seiten, 46 Euro

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