Ein Silicon Valley in Peking? Wenn es um Zhongguancun geht (chinesisch: Dorf am mittleren Pass), geraten Computerfans und Medien ins Schwärmen. Auch die Führung sieht in den Straßen des Universitätsviertels in der Weststadt das Mekka der Informationsindustrie und investiert hier Millionen in Forschung und Entwicklung. Nirgendwo sonst in China gibt es auf so engem Raum so viele Geschäfte für Computer und periphere Geräte - ungezählte Spezialläden für alles, was mit Datenübertragung zu tun hat. Meterhoch stapeln sich in den Hallen und Läden Leiterplatten, Bildschirme, Laufwerke und Videospiele. In den Hinterhöfen werden die billigen Raubkopien von teurer Software angeboten. Kein anderes Stadtviertel beherbergt so viele Unternehmen, Wissenschaftler und Techniker, die an der elektronischen Zukunft des Landes basteln und Bill Gates besser kennen als Deng Xiaoping.
An der Nordseite von Zhongguancun liegt Chinas bekannteste Universität. Die Elite von morgen sitzt nicht nur in den Hörsälen, sondern auch vor ihren Toren. Auf 300 Metern gibt es acht Internetcafes, in denen gleichzeitig 400 Studenten im world wide web surfen können - für rund eine Mark die Stunde. Wem das zu teuer ist, der muss in die Oststadt fahren. Dort kann man im Computerkaufhaus Bynow (auf Chinesisch mit den Zeichen für "100 Computer" geschrieben) auf zwei Etagen gratis ins Netz. In den Geschäften darunter sind alle japanischen und europäischen Markenfabrikate zu kaufen, aber auch einheimische Spitzenmodelle großer Hersteller wie Legend oder Founder, die mittlerweile in großen Stückzahlen auch in die USA und nach Japan exportiert werden. Keine Branche wächst derzeit in China schneller als die Informationsindustrie. Ähnlich wie beim Start der Japaner ins Innovationszeitalter stürzt sich heute die chinesische Jugend auf alles, was neu, schnell, technisch attraktiv und nicht zu teuer ist.
Beispiel Handy. Ende des ersten Halbjahres waren in China mehr als 60 Millionen Handynutzer angemeldet. Damit ist die Volksrepublik nach den USA der größte Markt für die auch hierzulande immer kleineren Geräte. Viele Familien verfügen schon über das Zweithandy. Immer mehr steigen bereits auf WAP-kompatible Winzlinge um, mit denen chinesische und ausländische Internetseiten auf den Streichholzschachtel großen Bildschirm geholt und Kurzbotschaften verschickt werden können, auch in chinesischen Schriftzeichen. Derzeit werden in China monatlich 2,7 Millionen Mobiltelefone neu angemeldet - Tendenz steil ansteigend. Allerdings werden 40 Prozent aller Handys ins Land geschmuggelt und hier mit gefälschten Gebrauchsanleitungen, aber in Originalverpackung angeboten.
Von den 100 führenden Industrieunternehmen noch 26 ohne Webseite
Einen ähnlichen Boom erlebt die Computerindustrie. Internationale Anbieter müssen sich darauf einstellen, dass einheimische Hersteller den Kinderschuhen entwachsen. Legend, der größte chinesische PC-Hersteller, vermeldete im 2. Quartal 2000 mit 1,31 Millionen Geräten ein Wachstum von 108 Prozent. Ähnliche Steigerungsraten geben auch Konkurrenzunternehmen wie Founder (mit Toshiba), Great Wall, Start oder Highsense an. China ist derzeit nach Japan der zweitgrößte Wettbewerber für Rechner im asiatisch-pazifischen Raum und deckt einen Marktanteil von 35 Prozent ab.
Nicht nur technologisch interessant, sondern auch politisch brisant ist die Explosion des Internetgeschäftes. Gab es Anfang 1999 noch rund zwei Millionen Anschlüsse, so sind inzwischen mehr als 15 Millionen Kunden angemeldet. In einem Jahr rechnet die Branche mit der Verdoppelung der Websurfer. Sie geht davon aus, dass schon in fünf Jahren 100 Millionen Chinesen am Netz sein könnten, mehr als in jedem anderen Land. Andere Schätzungen liegen gar bei 250 Millionen. Dabei tut sich ein fundamentaler Widerspruch auf, der die Kommunistische Partei in ein schier unlösbares Dilemma bringt. Zum einen weiß sie, dass stabiles Wirtschaftswachstum und Globalisierung ohne Einbindung in das weltweite Daten-Netz nicht zu haben sind. Zum anderen muss sie befürchten, dass über das Internet ein Sturzbach freier Meinungen ins Land schwappt, der alle Dogmen ad absurdum führt und das staatliche Informationsmonopol hinweg zu schwemmen droht.
Entsprechend widersprüchlich sind die Signale des Staates. Da wurden in diesem Jahr die Telefon- und Internetgebühren schon zum dritten Mal gesenkt, um mehr Surfer ins Netz zu holen und die Informationsindustrie anzukurbeln. Anfang Oktober wurden auch die Gebühren für den WAP-Service - das mobile Internet - herunter gesetzt. Den WirtschaftsPolitikern kann es gar nicht schnell genug gehen. Auf einem kürzlichen Forum für IT-Anwendungen kritisierte Song Ling, Direktorin im Ministerium für Informationsindustrie, es seien immer noch zu wenig Firmen im Internet. Von den 100 führenden Industrieunternehmen hätten 26 noch immer keine Webseite. "Nur sehr wenige Manager haben auf ihren Visitenkarten eine Web- oder E-Mail-Adresse vorzuweisen", bemängelt auch Liu Li, ein Offizieller der Staatlichen Kommission für Wirtschaft und Handel. Schlimmer noch: die Hälfte der kleinen und mittleren Betriebe hätte nicht einmal einen Computer. Auch die Verbreitung des elektronischen Handels geht vielen zu langsam. Dabei schätzt das Ministerium für Informationsindustrie, dass sich e-Commerce in den nächsten zwei Jahren verzehnfachen und einen Umfang von umgerechnet 2,75 Milliarden DM erreichen dürfte.
Die Medienwerbung für den schnellen Anschluss an internationale Standards in der Informationsindustrie läuft auf Hochtouren, schon um die einheimische Wirtschaft auf den Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation (WTO) vorzubereiten.
Meinungssurfer im Chat-Room der Pekinger
"Volkszeitung"Gleichzeitig aber werden immer neue Versuche gestartet, die Inhalte der Webseiten zu kontrollieren und alles herauszufiltern, was die Parteizensoren für politisch oder moralisch bedenklich halten. Gerade erst wurden "Maßnahmen für das Management der Internet-Informationsdienste" erlassen, die enge Grenzen für die Inhalte auf dem Bildschirm ziehen. Ein Paragraph vergattert beispielsweise die Provider, nichts ins Netz zu stellen, was "gegen die Verfassung gerichtet ist, die nationale Sicherheit gefährdet, Staatsgeheimnisse preisgibt, die Regierung untergräbt und die Politik der Wiedervereinigung mit Taiwan unterläuft". Keine der rund 35.000 chinesischen Webseiten darf etwas "gegen die Interessen und die Ehre des Staates" verbreiten, zu ethnischem Hass aufrufen, die staatliche ReligionsPolitik unterlaufen, oder "üble Kulte und feudalistischen Aberglauben" propagieren. Ganz und gar verboten sind Pornographie, Glücksspiel, Gewalt, Mord und Terror sowie "andere Informationen, die gesetzlich geächtet sind".
Aber die Internet-Polizisten stehen auf verlorenem Posten. Nicht nur wissen findige Surfer längst, wie sie auf Umwegen über Proxy-Server an gesperrte Seiten gelangen und alle Feuermauern durchbrechen. Die Dot.coms selbst versuchen ständig, ihre Inhalte attraktiver zu gestalten. Wer das lukrativste Angebot hat, verdient und kann überleben. So kommt es vor, dass selbst die orthodoxe Pekinger Volkszeitung über die Stränge schlägt. In ihrem Chat-Room toben sich gelegentlich Meinungen über die Führung, über Taiwan und Tibet aus, die das Zentralorgan üblicherweise als reaktionär einstuft.
Chinas "Langer Marsch" in die Informationsgesellschaft hat gerade erst begonnen. Hunderte Millionen wissen noch gar nicht, was ein Computer ist, und von den 1,3 Milliarden Chinesen sind erst verhältnismäßig wenige online. Aber die Entwicklung verläuft rasant. Es steht außer Zweifel, dass die IT-Revolution das Land nicht umschiffen, sondern die chinesische Gesellschaft radikal verändern wird. Chinas Internet-Guru Zhang Chaoyang weiß auch warum. Der 35-jährige hat am Massachusetts Institute of Technology studiert und mit Hilfe von Investitionen der Intel Corp. und der Dow Jones Co. das populärste und im vergangenen Jahr wohl ertragreichste chinesisch-sprachige Web-Portal geschaffen. "Sohu.com" ist inzwischen zum Schlüsselwort für die boomende Informationsindustrie geworden, auch wenn es finanzielle Rückschläge und Zensur gegeben hat. Für Chang sind die Effizienz und die Produktivität, die das Internet mit sich bringt, wichtig, aber doch zweitrangig. "Weit bedeutsamer ist, dass sich das Denken der Menschen verändert. Die Information revolutioniert das Denken und lässt die Menschen verstehen, was Marktwirtschaft bedeutet. Damit können sie ihre eigenen Entscheidungen treffen. Ihr Reichtum besteht dann nicht mehr im materiellen Besitz, sondern in ihren Ideen."
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.