Ein Lob der Lüge

Wissenschaft Volker Sommer untersucht das tierische und menschliche Täuschen, Tarnen und Tricksen aus evolutionsbiologischer, kulturgeschichtlicher und psychologischer Sicht

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Nicht unbedingt biologisch, aber dafür sehr professionell: Lügenmeister Pinocchio
Nicht unbedingt biologisch, aber dafür sehr professionell: Lügenmeister Pinocchio

Foto: Westend61/Imago

Haben Lügen kurze Beine? Es scheint eher so zu sein, dass der Entlarvung eines Lügners – sofern sie denn überhaupt gelingt – eine oft lange erfolgreiche Strategie des Täuschens vorangeht mitsamt der intendierten (Schein-)Vorteile für den Trickser. Eine perfekte Maske lässt sich im Tier- und Menschenreich nur schwer oder eben gar nicht erkennen, wozu auch jene Larve zählt, von der wir meist gar nicht wissen, dass wir sie tragen: der Selbstbetrug.

Nun präsentiert Volker Sommer, Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London und einem breiteren Publikum bekannt durch zahlreiche Magazinbeiträge und aus diversen TV-Diskussionsrunden, sein erstmals 1992 erschienenes populärwissenschaftliches Buch "Lob der Lüge" (SPIEGEL-Rezension) in stark überarbeiteter und erweiterter Neuauflage – schließlich hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten viel getan in Sachen Primaten- und Verhaltensforschung. Seine Grundthese aber blieb dieselbe: Im Lauf der Evolution habe sich Intelligenz vor allem deshalb entwickelt, weil soziale Tiere stetig ausgeklügelteren Lug und Trug erfanden und diese Finten zugleich immer perfektere Lügendetektoren in den Gehirnen ihrer Gruppenmitglieder heranzüchteten.

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Das Belegmaterial, das Sommer dafür zusammengetragen hat, ist imposant und resultiert nicht nur aus seinen eigenen Forschungsarbeiten, sondern auch aus denen vieler seiner Kolleginnen und Kollegen, von Jane Goodall und Diane Fossey, Frans de Waal, Byrne und Whiten, Robin Dunbar, Gregory Bateson, Michael Tomasello, Richard Alexander, von seinem akademischen Mentor Christian Vogel und etlichen mehr. Die Leser erfahren dabei Verblüffendes über die taktischen Täuschungsmanöver unter Primaten, wie Affen einander Bären aufbinden und mit der Absicht, den Täuschenden zu täuschen scheinbar "Gedanken lesen" können; wie ein "falscher-Eindruck-erwecken" zum sozialen Werkzeug wird und wo die (tierischen) Grenzen der Bluffs liegen. Eine oft auch zum Schmunzeln anregende Auswahl aus den Sternstunden geduldiger Beobachtung, von denen 253 Episoden auch in einem Sonderheft der Zeitschrift Primate Report des Deutschen Primatenzentrums Göttingen versammelt sind.

Parallel zu dieser empirisch-fachwissenschaftlichen Ebene erzählt Sommer auf einer zweiten die Kulturgeschichte der ethischen Bewertung von Lug und Trug. Das war seit jeher ein Großthema für Theologen und Philosophen, für Dichter, Künstler und Realpolitiker, und je nach Zeitumständen und Standpunkt pendelte diese Bewertung zwischen pragmatischer Lizenz und kompromissloser Verurteilung. Sommer lässt dazu viele gewichtige Stimmen zu Wort kommen, unter anderen von Homer, Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Luther, Machiavelli, Descartes, Spinoza, John Locke und Rousseau, David Hume, Münchhausen, Rudolpf von Ihering, Büchner, Kant und Schopenhauer, Wilhelm Busch, Georg Simmel, Friedrich Alverdes und Winston Churchill.

In vielen Zitaten zeigt sich, dass die Lüge schon früh als der Menschennatur zugehörig akzeptiert wurde, als 'anthropologische Konstante', als Überlebenstechnik wie etwa bei Nietzsche: "Der Intellekt entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung, denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist." (aus "Über Wahrheit und Lügen im außermoralischen Sinn", 1896)

Dieses Zitat hat Sommer dem spannenden Kapitel über "Die Logik der Selbsttäuschung" vorangestellt, worin er, gestützt auf die Arbeiten des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Robert Trivers sowie der Psychologen Ruben Gur und Harold Sackeim, in der Selbsttäuschung ebenfalls einen Selektionsvorteil (und nicht nur einen unbewussten Verteidigungsmechanismus) sieht: "Wir täuschen uns selber, um andere besser betrügen zu können." Ausführlich werden dabei die physiologischen und psychologischen Wirkursachen ("Wie?") und die Zweckursachen ("Wozu?") sowie die Kriterien für die Erkennbarkeit von Selbsttäuschung diskutiert. Dabei kommt es nicht selten vor, dass wir uns und anderen solange bewusst und mit mehr oder weniger beherrschtem Pokerface in die Taschen lügen, bis die komplizierten Manöver dieses Theaterspiels den tatsächlichen Sachverhalt aus unserem Bewusstsein verdrängen und wir zu Lügnern werden, die selbst an die Wahrheit der von uns vorgebrachten Lügen glauben.

Wie der Soziologe und Anthropologe Erving Goffman in seinem Standardwerk "Wir alle spielen Theater" zeigt, entwickeln sich diese "Lebenslügen" oft in langsamen Lernprozessen, während derer wir unser Spiel nach und nach perfektionieren, wobei wir die Rolle zuweilen aufgrund der Publikumsreaktionen abändern. Und je mehr "der Einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet", desto überzeugender wirkt sein Spiel auf das Publikum. Das hat gegenüber dem bewussten Lügen den Vorteil, dass die Gefahr des Selbstverrats gering ist, sogar ein Lügendetektor schlüge bei derartigem "Können" nicht mehr aus. Denn dass sich im Gegensatz dazu bewusste Täuschungsabsichten fast immer non-verbal verraten, davon war schon Sigmund Freud überzeugt: "Wer Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat, möge sich davon überzeugen, dass kein Sterblicher ein Geheimnis bewahren kann. Wenn seine Lippen schweigen, schwatzt er mit den Fingerspitzen: Verrat sickert durch jede seiner Poren."

Allerdings ist der unbewusste Lebenslügner (je älter er wird, desto besser) ja gar kein Lügner mehr, wenn man der Defintion des Augustinus folgt: "Keinen darf man natürlich als Lügner ansehen, der etwas Unwahres sagt, das er selbst für wahr hält; denn soviel an ihm liegt, lügt er nicht, sondern er täuscht sich."

Die Konsequenzen von Lebenslügen, Familienmythen und verzerrten Selbstbildern müssen für sich und andere nicht zwangsläufig zu Leid und pathologischem Verhalten führen (wie etwa in Henrik Ibsens Dramen), sondern können auch das "Immunsystem der Psyche" stärken, als positive Illusionen produktive Energien freisetzen oder als Tranqulilizer schwierige Lebensphasen erträglicher machen, wobei der Zusammenhang zwischen Selbsttäuschung und psycho-somatischer Gesundheit laut Sommer zwar noch nicht hinreichend erforscht sei, aber durch die evolutionsbiologische Perspektive neue Impulse erfahre. Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbsttäuschung scheint jedenfalls eine "innere Zensur" zu sein, eine selektive Wahrnehmung und Uminterpretation von Sinnesdaten, was zu einer selbstdienlichen Verzerrung (self-serving bias) führt.

Das so gewonnene Selbstwertgefühl gilt es zu verteidigen durch eine selbstauferlegte Ignoranz gegenüber 'realen' Fakten, Bevorzugung von bestätigenden Informationen (confirmation bias) und das Vermeiden offensichtlicher logischer Widersprüche (kognitiver Dissonanzen) durch eine Dogmatisierung des eigenen Glaubens-Systems. All diese Topoi werden von Sommer differenziert ausgeleuchtet ohne in trockenem Akademiker-Sprech zu langweilen; und so lässt er auch hierzu wieder den Barock-Schriftsteller Georg Paul Hönn, dessen Zitate aus seinem "Betrugs-Lexicon" (1720) sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch ziehen, spotten über den Selbstbetrug, "welcher / wie die Made den Käß / aller Menschen Hertzen durchkreuchet."

Was nun "das Gute am Lügen" sei, wie die menschliche Intelligenz im zwischenartlichen Vergleich abschneidet, welche Faktoren die Evolution unseres Denkvermögens vorangetrieben haben und warum die Fähigkeit zur Lüge dabei eine zentrale Rolle spielte, arbeitet Sommer im Schlusskapitel nochmal zusammenfassend heraus. Es geht dabei auch um Sinn und Unsinn von Intelligenztests bei Mensch und Tier, um fragwürdige Spekulationen über scheinbare Zusammenhänge von relativer Gehirngröße/-beschaffenheit zu sozialem Verhaltensweisen ("Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit Kausalität"); um die Frage, ob und ab wann man bei kognitiven Leistungen von Primaten eine "Theory of Mind" zugrunde legen kann und wie kooperatives Verhalten in komplexen Gesellschaften bei Mensch und Tier gedeutet werden kann.

Stimmt denn die Maxime "Der wahre Egoist kooperiert"? Wie beeinflussen direkte und indirekte Reziprozität von Individuen die soziale Dynamik und die 'Moralgebote' innerhalb einer Gruppe (Familie/ Clan / Volk)? Sommer will dem dabei kräftig mitwirkenden Lug und Betrug aufgrund seiner "Natürlichkeit" keine ethische Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellen; er warnt vor etwaigen Fehlschlüssen vom Sein aufs Sollen und einem aus der Evolutionstheorie abgeleiteten normativen Biologismus oder gar einer Legitimation, andere übers Ohr zu hauen. Aber weil Betrug hauptsächlich dazu dient, sich auf Kosten anderer Ressourcen zu verschaffen, wirkt er auch innovativ - Spam generiert Spamfilter. Und steigert damit auch unsere Kompetenz zum "Gedankenlesen", die Begabung, uns in andere hineinzuversetzen, also unsere Fähigkeit zu Empathie und Mit-Leiden. So gesehen wäre "ohne die Lüge als Trainerin unseres Intellekts unser Leben sterbenslangweilig. Wir mögen unter ihr leiden, doch schenkt sie uns vieles von dem, was uns unterhält und erheitert, uns Spannung beschert, uns zum Weinen oder Lachen bringt: von Kriminal- und Liebesromanen über Märchen und Kinofilme bis hin zu bildender Kunst, Musik, Theaterstücken und täglichem Tratsch und Klatsch."

Da ist wohl was dran, aber für den Rezensenten kein Grund, seine eigene Wahrheit über das "Lob der Lüge " zu verheimlichen: Volker Sommer hat da eine inhaltsreiche, thematisch ausdiffenzierte und in vielen Passagen vergnüglich zu lesende Neuauflage seine Klassikers hinbekommen - wer ihn von Magazinbeiträgen und TV-Auftritten kennt, weiß eh, dass er argumentative Power mit pointierter Sprachstilistik zu verbinden vermag, popular science at its best. Kann man auch Vieles von weiterdenken im Sinn einer evo-psychologischen Background-Analyse der Selbsttäuschungs-Mechanismen, der "Lebenslügen" und des reflexionsverweigernden Tribalismus in aktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen. Aber mit dem Stoff lässt sich auch ganz privat mal das eigene Verhalten reflektieren, wobei der Rezensent allerdings Wert darauf legt, es zumindest ab und an auch mit Wilhelm Busch halten zu dürfen: "Der Beste muß mitunter lügen. / Zuweilen tut er's mit Vergnügen."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

oxnzeam

Notizen, Essays und Rezensionen zu Kultur, Medien, Literatur und Gegenwartsphilosophie

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