Heinemann als Pate

Rücktritt Über die Erkrankung hinaus: Pascal Beucker über den Rückzug von Oskar Lafontaine aus der Bundespolitik

Seit Franz Josef Strauß hat kein deutscher Politiker derartige Emotionen in der Öffentlichkeit hervorgerufen wie Oskar Lafontaine. Von den einen geradezu vergöttert, wird er von den anderen abgrundtief gehasst. In der veröffentlichten Meinung waren letztere stets in der Überzahl. Spätestens seit seiner Entscheidung, in die Linkspartei einzutreten, vergaßen etliche Journalisten jegliche professionelle Distanz gegenüber dem Gegenstand ihrer Berichterstattung. Er wurde zum Betonkopf und grimmigen Ideologen verzerrt. Sogar das lebensgefährliche Attentat von 1990 wurde gegen ihn gewendet.

Er habe bereits vor einigen Jahren eine existenzielle Krise überwinden müssen, sagte Lafontaine mit Blick auf die damalige Messerattacke, als er nun seinen Rückzug aus der Bundespolitik erklärte. „Der Krebs ist jetzt dazugekommen.“ Es dürfte aber keine unzulässige Spekulation sein, dass seine Erkrankung zwar der Anlass, jedoch nicht der einzige Grund für seinen Rückzug ist. Bei allen sonstigen Unterschieden erinnert seine Entscheidung in diesem Punkt an den Rücktritt Matthias Platzecks vom SPD-Vorsitz im April 2006. Auch bei diesem gaben gesundheitliche Probleme schließlich den entscheidenden Anstoß. Aber es war kein von ihnen erzwungener Schritt, sonst hätte Platzeck nicht als Ministerpräsident weiter amtieren können.

Auch bei Oskar Lafontaine sind die äußeren Rahmenbedingungen in Berlin mit ausschlaggebend dafür gewesen, sich in jene Gefilde zurückzuziehen, in denen er sich politisch und persönlich heimisch fühlt. Er ist offenkundig des Kämpfens müde gegen Gegner, die auch nicht davor zurückschrecken, in seine Privatsphäre einzudringen. Dabei gilt in Deutschland, anders als im angelsächsischen Raum, das Privatleben von Politikern nicht als investigatives Betätigungsfeld. Es gehört zur politischen Kultur dieses Landes, dass der Blick durchs Schlüsselloch in das Schlafzimmer von Parlamentariern oder Ministern verpönt ist. Zwar kann es gute Gründe geben, diese ungeschriebene Regel zu verletzen. Schließlich sollte die journalistische Zurückhaltung nicht als Einladung zu Bigotterie und Doppelmoral missverstanden werden. Aber damit hatten die Veröffentlichungen über eine angebliche Affäre Lafontaines nichts zu tun. Sie dienten ja nicht der Aufklärung, sondern einzig als Waffe im politischen Kampf – und die Munition für die Geschichte kam aus den eigenen Reihen. Gerade aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit ist es nachvollziehbar, dass er sich das nicht länger antun will.

Im Vergleich zu seinem Rücktritt als SPD-Vorsitzender und Bundesfinanzminister im März 1999 wirkt sein jetziger Abgang denkbar unspektakulär: Kein Hals über Kopf, kein tagelanges Schweigen, wohlweislich kein monatelanges Rätselraten über seine Motive. Auch seinerzeit war sein Entschluss, so spontan er war, keine „Flucht aus der Verantwortung“, wie ihm seine Kritiker bis heute immer wieder unterstellen. Wie einst Gustav Heinemann die erste Regierung Konrad Adenauers verließ, weil er die bundesdeutsche Wiederbewaffnung ablehnte, wollte Lafontaine seine Zustimmung zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien und der als zutiefst unsozial empfundenen Politik Gerhard Schröders nicht geben.

Die Geschichte der Bundesrepublik ist nicht reich an Beispielen, in denen Politiker ihre politischen Grundüberzeugungen über den Erhalt ihres Amtes oder Mandates stellten. In der rot-grünen Regierung gab es damals außer Oskar Lafontaine niemanden. Wie viele solche Persönlichkeiten in der Linkspartei existieren, wird sich zeigen.


Pascal Beucker hat in seinem Buch Endstation Rücktritt 40 Abschiede aus der Politik untersucht

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