der Freitag: Der Unionspolitiker Carsten Linnemann hat mit einem Interview mit der Rheinischen Post eine Debatte über das Thema Integration und Bildung entfacht. Ein Kind, meinte er, „das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule nichts zu suchen“. In Kommentaren wurde von Rassismus gesprochen. Sind solche Aussagen rassistisch?
Mark Terkessidis: Wichtig ist, in welchem Zusammenhang diese Aussage gemacht wurde. In dem Interview schlägt Linnemann einen Bogen von Freibadschlägereien, Schwertattacken und Bahnsteigmorden zu „Parallelgesellschaften“ und dann hin zu mangelnden Sprachkenntnissen. Damit hat er klargemacht, dass Sicherheitsprobleme primär von Ausländer*innen ausgehen. Und im Umkehrschluss auch noch, dass „ausländische“ Kinder, die bei der Einschulung kein Deutsch sprechen, in Zukunft solche Sicherheitsprobleme darstellen werden. Zudem sind diese Kinder der Grund für den Niveauverlust an deutschen Schulen und verursachen Angst bei mittelständischen Eltern deutscher Herkunft. Also da muss man sich schon Mühe geben, die Stoßrichtung nicht zu erkennen.
Zur Person
Mark Terkessidis, geboren 1966, ist freier Autor und hat u. a. für taz, Tagesspiegel, Zeit und Süddeutsche Zeitung geschrieben sowie Radiobeiträge für den Deutschlandfunk verfasst und im WDR-Radio moderiert. Er promovierte über die Banalität des Rassismus, unterrichtete an den Universitäten Köln, Rotterdam und St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er Interkultur (2010), Kollaboration (2015) und Nach der Flucht (2017). Im September erscheint im Hoffmann und Campe Verlag sein Buch Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute
Warum macht ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU solche Aussagen?
In dem betreffenden Interview sagt er ja, dass die CDU sich stärker profilieren müsse – hauptsächlich beim Thema Integration. Und dann macht er das, was die CDU traditionell gemacht hat, aber unter Angela Merkel eben nicht mehr: Positionen rechts von der CDU werden – zumindest verbal – übernommen und gleichzeitig wird der Populismus gegeißelt. Das war ja früher, zumal bei CDU-Regierungen, regelrecht Staatsräson – und ist es weiterhin bei der CSU. Seit Merkel auf dem Absprung ist und die AfD sich als Konkurrenz etabliert hat, kommt diese Taktik wieder stärker zum Tragen.
Linnemann gilt ja als geschickt und erfahren im Medienumgang. Hat er die heftigen Reaktionen erwartet?
Vermutlich nicht. Die Aussagen kommen eigentlich recht weit hinten in einem Interview, das sich generell mit der Rolle der CDU befasst und in dem es auch viel um das Thema Klima geht. Aber es ist doch interessant, dass es in der Bildungspolitik immer die besonders rückschrittlichen Vorschläge sind, die sofort aufgegriffen und debattiert werden. Die sind so schön einfach. Schuld an den Problemen: Kinder, die kein Deutsch können. Lösung: Aussortierung, Absonderung, spezielle Maßnahmen. Die Realität ist komplizierter. Aber versuchen Sie mal die Veränderung des Regelunterrichts, die Arbeitsweise von Inklusion oder den alltäglichen Umgang mit Diversität zu erklären – ich sehe die Leute von den Medien schon gähnen. Und Politiker*innen bedienen das.
Sind die Gegenreaktionen aus allen Lagern nicht auch positiv zu werten? Oder halten sie das für reine Lippenbekenntnisse?
Ja, aber trotzdem geht es nicht um die Realität. „Vorschulpflicht“ klingt ungefähr so aktionistisch wie „Kitazwang“ – aber was soll das eigentlich heißen? Zur Zeit gibt es gar nicht flächendeckend Kita- oder Vorschulplätze. Und was ist mit dem Personal? Wenn die Erzieher*innen den Spracherwerb begleiten sollen – wie sind die dafür ausgebildet? Momentan hat das Personal im vorschulischen Bereich nicht studiert und wird schlecht bezahlt, soll aber alles richten und mal nebenbei noch„Sprachlerntagebücher“ führen. Zudem lieben wir es in Deutschland, viel und regelmäßig über frühkindlichen Spracherwerb zu reden, aber wir haben weiterhin erstaunlich wenig pädagogische Konzepte. Wir debattieren vor allem gern über die Probleme.
Sind denn Sprachdefizite überhaupt so ein Problem?
Sie müssten es nicht sein. Die meisten Bundesländer machen im Alter von vier Jahren die Sprachstandfeststellung. Wir haben also die Zahlen. Nun haben Kinder erwartungsgemäß Defizite, bei denen zuhause kein Deutsch gesprochen wird. Die Eltern sollen aber dringend die Sprache sprechen, die sie am besten beherrschen – das Schlimmste wäre gebrochenes Deutsch. Bei den Kindern wäre es gut, auch einen Test in der Muttersprache zu machen, um zu schauen, was sie können und nicht nur, was sie nicht können. Die aktuellen Tests haben zudem ergeben, dass ein Viertel der Kinder mit deutscher Muttersprache die gleichen Defizite aufweist. Und über die reden wir gar nicht! Wenn Sprachprobleme auf Migration reduziert werden, dann kommen auch Kinder deutscher Herkunft zu kurz.
Das bleibt aber doch ein Problem für die Schulen?
Ja, aber wir müssen endlich aufhören, uns alle Jahre wieder über „Quereinsteiger*innen“ zu beschweren. In den Wirtschaftsmetropolen Frankfurt und Stuttgart haben 75% der Kinder unter sechs Jahren Migrationshintergrund. Es geht nicht immer um Duisburg oder Berlin, das ist die Normalität in den alten Bundesländern. Zudem ist jedes Kind ein/e Quereinsteiger*in – die Leistungsunterschiede sind bei der Einschulung enorm. Das wird alles für normal gehalten, aber wenn das Kind Migrationshintergrund hat, dann wird es eine Riesensache. Mit den notwendigen Ressourcen könnten alle Kinder mit einem individuell abgestimmten Plan sofort in den Regelbetrieb. In allen Fächern würde „Deutsch als Zweitsprache“ im Regelunterricht über fünf bis acht Jahre mitlaufen. Eine Absonderung bringt ja auch gar nichts – oder lerne ich eine Sprache besonders gut, wenn ich vor allem mit Personen zusammen bin, die die Sprache nicht können?
Warum ändert sich daran nichts – warum dieses Festhalten an der biodeutschen Norm?
Das ist die alte Integrationslogik – Defizite feststellen und dann in Sondermaßnahmen kompensieren und korrigieren. Deutschland hat ja erst 1998 anerkannt, dass es Einwanderungsland ist, also erst vor 20 Jahren – es ist immer noch schwierig, die Vielheit als Normalität zu begreifen und den Regelbetrieb entsprechend zu verändern. Die Unwissenheit ist selbst bei Leuten in der Bildungspolitik groß. Ich erinnere mich immer noch daran, dass Johanna Wanka, damals Bildungsministerin im Bund, vor zwei Jahren den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in Klassen auf 35 Prozent beschränken wollte. Wenn man das ernst nähme, müssten in Frankfurt Kinder aufs Land verschickt werden ... So läuft Bildungspolitik öfter auch. Es hat Unmengen von kleinen Reformen gegeben, die dann wieder verwässert wurden. Das Lehrpersonal ist regelrecht reformmüde, ohne dass es einen großen Wurf gegeben hätte.
Welche Reformen meinen Sie?
Nehmen wir mal Inklusion. Da wurde von der Seite der Politik ein internationaler Vertrag ratifiziert und dann wurde das Thema einfach an die Schulen weiterdelegiert – ihr müsst das jetzt machen. Am Anfang sollte es auch noch kostenneutral sein. Es gab keinen abgestimmten Plan für die Implementierung, es hab keine Hilfen für die Organisationsentwicklung, es gab keinen strukturierten Transfer von Knowhowzumalvon den sogenannten Förderschulen. Zudem standen oftmals wieder die Defizite der Kinder im Vordergrund. Das heißt, dass heute die „Integrationskinder“ einen „Rucksack“ bekommen – ihre individuellen Helfer*innen, die stundenweise in die Klassen kommen. Und dann bleiben die Kinder natürlich stigmatisiert. Ich war kürzlich auf einer Einschulungsfeier für eine Sekundarschule, wo die Schulleiterin die Kinder darauf aufmerksam machte, dass es auch Kinder „mit besonderem Förderbedarf“ auf der Schule gebe, etwa solche im Rollstuhl, die auch Respekt verdienten. Und das 2019... Ich fürchte, Stephen Hawking wäre in Deutschland nicht weit gekommen. Viel sinnvoller wäre es, von der Gesamtheit auszugehen: Welche Ressourcen benötig eine Klasse insgesamt, die inklusiv sein soll?
Aber haben dann sogenannte mittelständischen Eltern nicht doch zu Recht Angst vor dem Niveauverlust der Schulen?
In kaum einem Land ist der Zusammenhang zwischen Herkunft und Schulerfolg größer als in Deutschland. Kinder mit akademischem Hintergrund sind rund ein Jahr voraus, was ihr Niveau betrifft – und trotzdem schieben die entsprechenden Eltern eine regelrechte Panik. Die haben das – von Leuten wie Linnemann ja gerade wieder unterfütterte Gefühl – dass ihre Kinder von „Integrationskindern“ aller Art zurückgehalten werden, endlich mal wieder mit dem „Stoff“ durchzukommen. Tatsächlich gibt es da eine Tendenz zur Absonderung – das ist das bekannte Phänomen der „weißen Flucht“.
Das klingt alles sehr pessimistisch.
Nein, das Bild ist gemischt. ich finde, dass es eine klare Entwicklung von unten nach oben gibt – die Kindertagesstätten und die Grundschulen haben sich im Durchschnitt schon stark verändert. Wenn Sie da heute hingehen, dann können Sie sehen, wie pragmatisch da häufig mit Vielheit umgegangen wird, wie sich die Räume verändert haben, wie neue Lernmethoden neben dem frontalen Unterricht etabliert sind. Und oft funktioniert Inklusion auch. Anstatt also in Angststarre zu verfallen oder große Sprüche zu klopfen, sollten Leute in der Politik diese Entwicklung kennen und aktiv wertschätzen und unterstützen. Und die Politik muss endlich die entsprechenden Ressourcen bereitstellen. Um es mal ganz klar zu sagen: Was in Deutschland für Bildungspolitik ausgegeben wird, das ist eine Schande für ein entwickeltes Land.
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