Eine verlorene Schlacht

WAFFENSTILLSTAND IM DENKEN Wie Politiker auf ihre Autonomie und Handlungsfähigkeit verzichten und statt dessen eine reflexhafte Flucht nach vorn antreten

Wir hatten keine andere Wahl«, meinte Bundeskanzler Schröder, vor nun mehr als zehn Wochen. »Keinen Zweifel« hatte und hat Verteidigungsminister Scharping, daß der Krieg gegen Jugoslawien »die letzte verbleibende Möglichkeit« war, um zu »den zivilen, wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten von Politik« zurückzufinden. Und Außenminister Fischer war und ist sich sicher: »Die Verantwortung liegt allein bei Milosevic.«

Herrscht Waffenstillstand im Denken? - Man muß diese Sätze aufschreiben und sie wieder und wieder lesend durchdenken, um ihrer strahlenden Sinnlosigkeit nicht zu erliegen. Keine andere Wahl hatte Schröder - in einer Welt, in der er tausendmal am Tag die Chance des Wählens hat. Die letzte verbleibende Möglichkeit, zur zivilen Politik zurückzufinden, sieht Scharping im Krieg - die Kritik muß fast verstummen vor solch inbrünstig vorgetragener, hermetisch abgeschlossener Unlogik.

Wie kommt es zu dieser verheerenden Verwüstung im Denkapparat der politischen Elite? Welches könnte das geheime Virus sein, dem diese Elite und breite Schichten der Gesellschaft derzeit erliegen?

Allen drei Politikersätzen gemeinsam ist das Argument, keine Handlungsfreiheit besessen zu haben. Milosevic hat ihnen keine Wahl gelassen. Sie sind Opfer seiner Halsstarrigkeit geworden. Welch ein blühender Unsinn! Man stelle sich vor: Die NATO, sozusagen die gesammelte westliche Welt unter Führung der USA, mitsamt ihrem ungeheuren militärischen Vernichtungspotential, wird das Opfer eines über ein Zehn-Millionen-Volk herrschenden Balkanpotentaten. In Anbetracht dieser Kräfterelationen ist es nicht mehr weit bis zu Hitlers Logik, der sich als Opfer einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung fühlte.

Im Opfergefühl wird die blinde Wut zum Antrieb des Handelns

Opfer werden zu Tätern. Es gibt keine stärkere Legitimation zum Losschlagen als einen behaupteten Opferstatus. Auch Milosevic und die Serben, die bekanntlich ihren kollektiven Opfermythos pflegen wie kaum ein zweites Volk, fühlen sich schon lange als Opfer des Westens. Die fortdauernden Luftangriffe haben das serbische Opfergefühl noch einmal exponential gesteigert. Die grausamen Vertreibungen der Kosovo-Albaner und einzelne Massaker, in der vollen Überzeugung ihrer Berechtigung, sind die Folge.

Im Opfergefühl wird die blinde Wut zum Antrieb des Handelns. »Die Serben haben es nicht anders verdient«, tönt es vollmundig an den Stammtischen. Daß auch Unschuldige, Menschen, die in Berlin, Hamburg oder München keiner kennt, der blinden Militäraggression zum Opfer fallen, ist dabei anscheinend völlig nebensächlich. Es reicht, daß sie dem serbischen Volk angehören, um ihren Tod zu rechtfertigen. Das ist eine rassistische und totalitäre Weltanschauung, der jedes Unterscheidungsvermögen abhanden gekommen ist, die Menschen nicht mehr als einzigartige Individuen wahrnimmt, sondern nur noch als Teil einer amorphen Masse - der Serben, der Kosovo-Albaner oder welcher fiktiven Gemeinschaft auch immer.

Opfer-Tätern sind, weil sie jede Verantwortung von sich weisen, die Folgen ihres Tuns gleichgültig. Ihnen ist schlicht egal, was um sie herum passiert. Außer ihrem eigenen Wohl streift nichts ihr Blickfeld. Mögen feindliche Soldaten oder Zivilpersonen sterben, mögen die eigenen, von ihnen in den Krieg geschickten Soldaten auf dem Schlachtfeld fallen, mögen die Kosovo-Albaner dem aufgestachelten Blutrausch der Serben zum Opfer fallen, möge gar der bisher begrenzte Konflikt zu einem großen Krieg ausufern - sei's drum. Solange Schröder, Fischer, Scharping Co. im Trockenen sitzen, sich selbstgefällig als leidgeprüfte Retter im Dienste der Menschheit inszenieren können, sind sie es zufrieden.

Opfer-Täter sind jeder rationalen Kritik unzugänglich. Wer es auch nur wagt, seine Ansichten ihrer Sicht der Dinge entgegenzusetzen, der rechne mit ihren wütenden Gegenattacken. Der Grünen-Politiker Christian Ströbele, der als einer der ersten den sofortigen Stopp der NATO-Angriffe forderte, wurde daraufhin von seinem jungen, ahnungslosen Parteifreund Matthias Berninger mit dem Parteiausschluß bedroht. Wer wie Gregor Gysi - aber auch Henning Voscherau, Friedensforscher Dieter Lutz, Ex-General Gerd Schmückle und viele andere urteilen genauso - auf den völkerrechtswidrigen Charakter des Angriffskrieges der NATO hinweist und die schwerwiegenden Konsequenzen, die aus diesem Bruch des internationalen Rechts folgen, der wird, wenn es großzügig zugeht, als kleinkarierter Erbsenzähler diffamiert. In der SPD scheint der vorauseilende Gehorsam potentieller Kritiker so weit zu gehen, daß es - die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel - niemand wagt, die Stimme zu erheben. Die Angst, als »vaterlandsloser Geselle« abgestempelt zu werden, scheint sich tief in die Seele der Partei eingebrannt zu haben.

Die Angst ist verständlich, kennzeichnet es doch Opfer-Täter, daß sie nicht rational argumentieren, sondern unverhohlen drohen. Die Drohung mit dem Parteiausschluß oder der Stigmatisierung als »Verräter« - Gerhard Schröder meinte zu Hermann Scheer, seinem engagiertesten Kritiker im Parteivorstand, dann könne er ihn ja gleich einen »Völkermörder« nennen - gehören hierzu, genauso das immer wieder genannte Argument gegen Gegner des Militärschlags, sie würden sich damit als Komplizen Milosevics oder gar als Befürworter der Verbrechen gegen die Kosovo-Albaner entlarven. Diese Argumente sind so blindwütig und bar jeder rationalen Grundlage, sie können nur von Menschen stammen, die ihre Autonomie und Handlungsfreiheit abgetreten haben. Es ist die reflexhafte »Flucht-nach-vorn« des autoritären Charakters, die sich hier in maßloser Opferwut Bahn bricht.

Das Gewicht der gesamten Welt schultern

Opfer-Täter reden viel von Verantwortung, stellen ganze Parteitage unter dieses Motto - und haben doch überhaupt keinen rechten Begriff davon: Es ist geradezu das Wesensmerkmal von Verantwortung, daß es nicht nur eine einzige Möglichkeit verantwortbaren Handelns gibt. Auf jede Frage, die nicht suggestiv oder rhetorisch gestellt ist, gibt es mindestens zwei, meistens aber unendlich viele Antworten. Verantwortung setzt Wahlfreiheit voraus. Wenn ich dagegen meine Freiheit und Verantwortung negiere, dann werde ich über kurz oder lang auch ernten, was ich säe. Wenn mein Entwurf von mir und der Welt vom Motiv des Gezwungenseins ausgeht, dann werden Zwang, Gewalt und Krieg auch die alles beherrschenden Seinsmodalitäten sein. Diese Tatsache schreibt sich dann auch in meine Physiognomie ein, wie ein kurzer Blick in die Gesichter von Schröder, Scharping und Fischer nur allzu schnell verdeutlicht. Hier - und keiner versinnbildlicht dies besser als der wie ein »Opferlamm« dreinschauende Scharping - steht in der Tat geschrieben, daß sie derzeit das Gefühl haben, »das Gewicht der gesamten Welt schultern« (Sartre) zu müssen.

Wem wirklich an einer Verhinderung der Menschheitsverbrechen im Kosovo gelegen wäre, der würde nicht immer noch mehr Feuer ins Öl gießen, der würde der Logik der Gewalt entsagen und als selbstbewußtes Beispiel des Friedenswillens vorangehen. Er würde Milosevic die Bedingungen einer Einigung nicht diktieren, sondern seinen Standpunkt zu verstehen suchen und ihm - ja, richtig - so weit wie möglich entgegenkommen. Er würde überlegen, ob seine Einmischung nicht vielmehr Teil des Problems als Teil der Lösung ist - und von Anfang an gewesen ist! - und erwägen, sich aus der Verwicklung in den Konflikt zurückzuziehen. Er würde sich fragen, ob die Kosovo-Albaner denn alle Unschuldslämmer sind oder nicht ihren Teil zur mörderischen Eskalation des Konflikts beigetragen haben. Und er würde - sollten alle friedlichen Konfliktlösungsversuche tatsächlich scheitern - alles unternehmen, um den bedrohten Kosovaren wirklich zu helfen - auch unter Inkaufnahme eigener Opfer (allerdings nicht an Menschenleben!), wie sie zum Beispiel eine großangelegte Evakuierungsaktion unter dem Schutz von OSZE-Beobachtern und eine großzügige Asylgewährung mit sich brächten.

Doch all dies ist Gedankenspielerei, solange sich selbstgerechte Opfer-Täter für alles und nichts zuständig erklären. Opfer-Täter verweigern, leider, jede kritische Selbstreflexion. Sie können sich schlicht nicht vorstellen, daß sie selbst zur Verschärfung des Problems beitragen. Sie sehen im Gegner das gnadenlose Monster und sich selbst nur von den besten Motiven geleitet. Ihnen mangelt es an jeder zuverlässigen Selbsteinschätzung. Dennoch spielen sie sich als Friedensritter der Welt auf. Und als solche werden sie bald - lange wird es wohl nicht mehr dauern - Bodentruppen ins Kosovo schicken.

Unser Autor arbeitet als Politologe und freier Publizist in Hamburg.

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