Der Körper unter dem weißen Leichentuch ist von so schwere Verbrennungen gezeichnet, dass jede Identifizierung unmöglich ist. Die Ärzte sagen, es handle sich um die Überreste eines etwa elf- oder zwölfjährigen Jungen. Eine alte Frau sitzt neben dem Leichnam. Es könnte der Neffe sein, den sie sucht – die letzte Gewissheit bleibt ihr verwehrt.
Verstreut, nicht in einer Reihe oder aufgebahrt, liegen mindestens 100 Tote auf dem Boden der Iman-Moschee im Nordosten Kairos. Die meisten sind aus dem nahe gelegenen Rabaa-al-Adawiya-Camp hierher gebracht worden. In dieser Gegend kamen Human Rights Watch zufolge bei der Auflösung einer der beiden Pro-Mursi-Blockaden mindestens 250 Menschen ums Leben – im ganzen Land waren es an jenem 14. August, dem blutigsten Tag seit dem Sturz Hosni Mubaraks, über 700. Im Inneren des Gotteshauses irren ganze Familien auf der Suche nach Angehörigen zwischen den Leichen umher. Einige halten Räucherstäbchen in den Händen, um die Luft aufzufrischen, doch nichts vermag den Gestank von Blut und Desinfektionsmitteln zu vertreiben. Aus Angst, einige der Toten könnten schnell verwesen, haben Helfer des Imams überall Eisplatten gestapelt, um zu kühlen, aber es hilft wenig.
„Wir konnten ihn zunächst nicht finden“, sagt der Lehrer Ibrahim Hussein, der neben dem Leichnam seines Bruders Abdel Rahman sitzt, der im vierten Semester an der Universität studierte. „Dann hörten wir, dass viele Opfer hierher gebracht wurden. Also gingen wir von einem zum anderen, bis wir seinen Namen auf diesem Leichentuch fanden. Wir haben so viele Körper gesehen – ich habe aufgehört zu zählen. Wie viele es sind, das weiß nur Gott allein.“
Spielzeug und Sonnenbrillen
Nebenan hilft ein Arzt einer Familie mit den Bestattungsformalitäten. „Die Leute wollen die Toten begraben, aber die Polizei weigert sich, die wirkliche Todesursache auf dem Totenschein zu vermerken“, meint Dr. Hany Nawara.
„Alle sollen bei einem Unfall oder durch Selbstmord ums Leben gekommen sein. Es ist grotesk, wenn sich das Gesundheitsministerium strikt weigert, die Spurensicherung zu schicken. Der ,tiefe Staat‘ versucht, die Familien so weit in die Verzweiflung zu treiben, dass sie ihre Lieben beerdigen müssen, ohne feststellen zu können, woran sie gestorben sind.“
Vor der Moschee haben sich in den zurückliegenden Tagen immer wieder Angehörige zu Trauermärschen vereint, bei denen sie unter Tränen ihre Wut auf die Armee herausschreien – darunter der 23-jährige Student Mohamed Said, der zwei Freunde aus Kindertagen vermisst – Mohammed Salah und Ahmed Adel. „Ich habe sie im Viertel Rabaa gesucht und hier in Nasr-City, aber ich kann sie nirgends finden. Ihre Telefone sind abgestellt, ihre Wohnungen versiegelt, und ihre Namen finden sich auf keiner Liste der identifizierten Toten.“
Am Gitter der Rabaa-al-Adawiya-Moschee hängen Papierrollen mit Namen. Tote, deren Identität geklärt ist. Für die Familien der Opfer ist zugleich angegeben, in welches Leichenschauhaus sie gebracht wurden. Etwa 30 Körper allerdings waren derart verkohlt, dass man sie sofort beerdigt hat. Als die Polizei das Lager Rabaa am Morgen des 14. August nach mehrstündigem Beschuss stürmte, brachen Feuer aus. Die provisorische Moschee des Camps brannte, ebenso die behelfsmäßig gezimmerte Krankenstation mit den Leichen erster Opfer, die dort bereits aufgereiht lagen.
Mitten im Lager stand eine Bühne, von der herab Prediger sprachen und beteten, umgeben von Tausenden Demonstranten und Dutzenden von Zelten. Einige dieser Unterkünfte dienten zum Schlafen, in anderen wurden Gemüse, Obst, Spielzeug und Sonnenbrillen verkauft, umgeben von selbst gebauten Wänden, um das Camp nach außen abzuschirmen. Davon blieb nichts übrig, seit die Bulldozer darüber hinwegrollten. Mit einem Kran werden nun das Gerüst der Bühne und die rußschwarzen Überreste des provisorischen Pressezentrums der Muslim-Brüder abgetragen, beobachtet von Geheimdienstleuten und Soldaten. Ein paar Schaulustige murmeln etwas über die Ungerechtigkeit und Ungeheuerlichkeit des Geschehens. Der grimmig dreinblickende Iman der Rabaa-al-Adawiya-Moschee will keinen Kommentar abgeben.
Einige Passanten suchen auf dem Gelände des geschleiften Protestlagers nach zurückgelassenen Kleidungsstücken, während ein Mann, eindeutig kein Freund der Muslim-Brüder, herumschreit. „Die Bärtigen haben den Islam zerstört“ – einige Zuhörer applaudieren – „jeden Bärtigen, der es wagt, mich anzusprechen, werde ich auseinanderhacken“, der Beifall wird lauter.
Das Camp mag geräumt sein, aber die Brutalität, mit der dies geschah, hat die Gewalt erst recht angefacht, wie die Märsche der Wut am Freitag gezeigt haben. Obwohl mit dem Ausnahmezustand eine nächtliche Ausgangssperre gilt, wird in Teilen Kairos auch nachts geschossen. Die Muslim-Brüder hatten öffentlich geschworen, sich jeder Form von Unterdrückung zu widersetzen. Was sie unter Mubarak zu erdulden und zu durchleiden hatten, sollte sich nie wiederholen. Aber es wird sich wiederholen, wenn Mursi-Anhänger das Finanzministerium angreifen oder die Zentralverwaltung der Provinz Giza niederbrennen, zu der auch der Westen Kairos gehört. Übergangsregierung und Armee wollen sich das nicht bieten lassen – sie nehmen die Herausforderung an.
Verräter El-Baradei?
Ohnehin beharrt Premier Hasim al-Beblawi trotz des internationalen Entsetzens über die Massaker darauf, es sei richtig, wenn das Militär „Terroristen“ in den Arm falle. Nur wenn die Mauern der Bruderschaft niedergerissen würden, ließe sich Stabilität herstellen. Al-Beblawi bringt es fertig, die Sicherheitskräfte für ihre „größtmögliche Zurückhaltung“ zu loben. Ägypten bleibe jeder Fortschritt verwehrt, „wenn es keine Sicherheit gibt“, so der Regierungschef in einer Fernsehrede am Abend des 14. August. Kein Wort darüber, dass er im Frühjahr 2011 nach einem Massaker an koptischen Christen die damalige Regierung aus Protest verließ – also nicht anders reagierte als jetzt Vizepräsident Mohammed El-Baradei. Der trat zurück, um nicht tolerieren oder gar gutheißen zu müssen, wie sich die Armee durchsetzt, und muss nun schlucken, dass ihm Fernsehkommentare hinterherrufen: „Verräter“ wie El-Baradei müssten unter Hausarrest gestellt werden – sie könnten gefährlich werden. Kein Zweifel, das liberale Lager rückt nach rechts und dient sich der Armee an. Lediglich die Partei der Revolutionären Sozialisten Ägyptens, die 2011 während des Aufstandes gegen Mubarak zu einiger Prominenz gekommen ist, nennt die Geschehnisse „konterrevolutionär“. Sie seien „Teil eines Plans, die ägyptische Revolution zu liquidieren und den Polizeistaat des Mubarak-Regimes wiedereinzuführen“.
Patrick Kingsley ist Ägypten-Korrespondent des Guardian Übersetzung: Zilla Hofman
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