Schlaft euch endlich aus!

Die Buchmacher Bislang haben es die meisten Kapitalismuskritiker verschlafen, den nächtlichen Schlummer ins Visier zu nehmen. Jonathan Crarys Buch holt das nach
Ausgabe 43/2014
Schlaft euch endlich aus!

Bild: Philippe Lopez / AFP / Getty

Wer schläft, sündigt nicht“, lautet ein Sprichwort. Zu Recht. Denn wenn wir nicht schlafen, dann tun wir meistens irgendetwas. Und dieses Tun füttert den unermüdlichen Motor des Kapitalismus. Wir sind ständig on, stehen buchstäblich unter Strom und arbeiten bis zum Umfallen.

„Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit“, schreibt Jonathan Crary in seinem neuen Buch 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus. Schon die Themenwahl verdient Applaus, denn bislang haben es die meisten Kapitalismuskritiker verschlafen, den nächtlichen Schlummer ins Visier zu nehmen.

Okay, und was bitte soll der Schlaf mit dem Kapitalismus am Hut haben? Eine Menge, wie Crary, Kulturwissenschaftler an der Columbia University in New York, in seinem Buch zeigt.

Heutzutage schläft der nordamerikanische Durchschnittsbürger sechseinhalb Stunden; vor einer Generation waren es noch acht Stunden und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar zehn Stunden. Die Nachtruhe wird immer häufiger attackiert: Ende der 1990er Jahre versuchte ein russisch-europäisches Raumfahrtprojekt, die Erde mit riesigen Spiegeln in ständigem Licht zu fluten. Das Ganze floppte. Weit erfolgversprechender tüftelt das US-Militär derzeit an Pillen, die das natürliche Schlafbedürfnis für sieben, wenn nicht gar 14 Tage aufheben sollen – und der schlaflose Soldat sei nur die Vorstufe des wachen Arbeiters und Konsumenten, so Crary.

Der Autor zeigt eindrücklich, wie sich die Biopolitik des Schlafraubs entwickelt hat: Vor allem die Philosophie der Aufklärung – also das Weihelied der bürgerlichen und kapitalistischen Industrialisierung – habe dazu beigetragen, den Schlaf in Misskredit zu bringen: „Er wurde abgewertet angesichts der Hochschätzung von Bewusstsein und Willenskraft, von Nützlichkeit, Objektivität und eigennütziger Tätigkeit“, stellt Crary fest. Das Licht der Aufklärung stürzte die Lohnsklaven in den Nonstop-Betrieb der elektrifizierten Fabriken. Seitdem ist die Beschleunigung nicht aufzuhalten. Um 1845 waren die ersten Geldüberweisungen möglich, fünf Jahre später wurde ein Telegrafenkabel durch den Ärmelkanal verlegt, heute können wir 24 Stunden am Tag und sieben Tage pro Woche mailen, shoppen und eben schuften.

Aus Sicht der Kapitalisten ist Schlafen nur etwas für Verlierer. Umgekehrt sollten sich Kapitalismuskritiker bewusst werden, dass die Nachtruhe einer der allerletzten Rückzugsorte vor den Zumutungen des Neoliberalismus ist. Doch nicht für alle: Die Forderung, ständig auf Draht zu sein und zu schuften und zu konsumieren, bringt immer mehr Menschen um den Schlaf. Die Qual der Schlaflosigkeit, der Insomnia, ist die absurde Kehrseite des 24/7-Wahns; ein Mix aus permanenter Reizüberflutung und der Angst, etwas zu verpassen.

Crary durchleuchtet souverän die dunklen Gefilde des Schlafs – vom Fernsehen bis zu Facebook, von Cervantes’ Don Quijote über Hitchcocks Psycho bis hin zum dauerwachen Blade Runner. Diese Analyse unterfüttert er mit Verweisen zu Marx, Foucault und Deleuze. Fazit: Der Schlaf schlägt den Kapitalisten ein Schnippchen, weil „sich nichts Verwertbares aus ihm herausholen lässt“. Das haben nun auch die Kapitalisten gemerkt; deshalb sollten wir wachsam bleiben, wenn uns der Schlaf ausgetrieben werden soll. Ein lebhaft geschriebenes, ein interessantes Buch, dessen Lektüre den Leser im positiven Sinne um den Schlaf bringen kann.

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin

24 / 7. Schlaflos im Spätkapitalismus Jonathan Crary , Thomas Laugstien (Übers.) Wagenbach 2014, 112 S., 14,90 €

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