Skelette in der Wüste

USA Tausend Kilometer lang ist der massive Grenzzaun zu Mexiko bereits. Der Weg an ihm vorbei führt oft genug in den Tod
Ausgabe 23/2018

Am sechsten Tag in der Wüste dachte Gamez, er hätte Wasser gefunden. Vor seinen Füßen verliefen plötzlich schwarze Rohre über den Sandboden. Bewässerungsleitungen für eine Ranch? Aus einer undichten Verbindung zwischen zwei Rohren quoll eine Flüssigkeit. Gierig warf sich Gamez darauf. Dann spürte er das Brennen im Mund, statt Wasser floss durch die Leitung offenbar Unkrautvernichter. Gamez blickte sich um. Die Sonne brannte vom Himmel. Wie lange würde er noch durchhalten?

Omar Gamez, 24 Jahre alt, aus Hermosillo im Norden Mexikos, hatte seine Odyssee in Nogales begonnen, einer Stadt am Rande der Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA. Gut 20.000 Menschen leben auf der US-Seite von Nogales im Staat Arizona, etwa zehnmal so viele auf der mexikanischen im Staat Sonora. Das Areal vor der Grenzanlage wird im US-Teil dominiert von Parkplätzen und Wechselstuben – im mexikanischen von Bistros, Casinos, Stripclubs und Stundenhotels.

An kaum einem Grenzübergang zwischen beiden Ländern herrscht mehr Waren- und Besucherverkehr, kaum irgendwo sonst gibt es einen derart intensiven Menschenschmuggel. Und an kaum einem anderen Grenzabschnitt lässt sich besser beobachten, was geschieht, wenn man versucht, mit Mauern Probleme zu lösen, wie es Donald Trump mit seinem angekündigten Grenzwall zu tun gedenkt. In Nogales existiert eine solche Mauer bereits, 1994 erbaut aus dicht nebeneinanderstehenden Stahlpfeilern. Sechs Meter hoch, an der Spitze mit Metallplatten versehen, die das Klettern erschweren sollen, zieht sie sich durch die Stadt wie eine rostrote Wand.

Hinein ins Dunkel

2.800 Dollar zahlte Gamez an einen der „Coyoten“, wie die Schleuser genannt werden. Wäre es mehr gewesen, hätte er die Wand aus stählernen Gittern bequem mit einem gefälschten Visum hinter sich lassen können. Besäße er die athletischen Fähigkeiten, hätte er versuchen können, über das Hindernis zu klettern. Und mit den richtigen Kontakten hätte er vielleicht einen der Tunnel unter der Stadt benutzen können, die dem Schmuggel von Drogen dienen. Aber Gamez hatte weder mehr Geld noch die nötigen Kontakte. Also blieb nur der Weg durch die Wüste. Dort, mehrere Kilometer außerhalb von Nogales, endet die stählerne Wand abrupt. Fragt man Grenzbeamte, warum das so ist, sagen sie: Niemand habe ernsthaft geglaubt, dass jemand so verrückt sei, durch die Wüste zu marschieren. Menschenrechtler sagen hingegen: Es sei Vorsatz, die Migranten in die Wüste zu lenken. Das solle abschrecken. Jedem solle klar sein, wie riskant es sei, illegal in die USA zu kommen.

Der Coyote jedoch gab Gamez zu verstehen, dass im Grunde nichts passieren könne, wenn er sich an die Regeln halte: in Kolonne gehen, auf die gebotene Camouflage achten, die Schuhe mit Filz überziehen, um keine Abdrücke zu hinterlassen. Nicht reden. Nachts gingen sie los, der Coyote vornweg, sieben Mann hinterher. So zogen sie wie Schatten in die Sonora-Wüste, eine Prozession der Hoffnung. Niemand wusste, ob sie noch in Mexiko waren oder schon in den USA. Bis sie nach Stunden in der Finsternis plötzlich von einem grellen weißen Licht geblendet wurden – einem Scheinwerfer der Grenzpolizei. Gamez rannte einfach los. Hinein in das Dunkel der Wüste.

3.144 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Vom Pazifik in Kalifornien bis zum Golf von Mexiko. Fast ein Drittel der Grenze, über 1.000 Kilometer, sind bereits mit einem meterhohen Zaun wie dem von Nogales gesichert. Dicht an dicht gebaut, ragen rostrote Stahlpfosten meterhoch aus den Fluten des Pazifiks, recken sich aus senfgelben Wüstendünen, thronen auf den Spitzen von Bergen oder teilen ganze Städte. Die restlichen 2.000 Kilometer des Grenzverlaufs sind weit weniger massiv befestigt, teils nur mit einem Stacheldrahtzaun und Fahrzeugsperren. Dort, in den weiten Ebenen des Grenzlands, in den Cañons oder durch die riesigen privaten Rinderfarmen, verlaufen die Wege der Schmuggler und Migranten. Donald Trumps Logik: Eine durchgängige Mauer an der Südgrenze – und die Illegalen bleiben in Mexiko. Ob der US-Präsident diese Idee wirklich umsetzen kann, ist ungewiss. Fest steht: Schon seit Jahrzehnten befestigen die USA die Grenze zu Mexiko und rüsten sie mit einem immer dichteren Netz der Hightech-Überwachung auf. Das funktioniert durchaus: Immer weniger illegale Migranten versuchen, die USA zu erreichen. Seit gut zehn Jahren sogar deutlich weniger, doch bleibt die Zahl der Grenztoten konstant, weil das Risiko steigt. Allein in der Sonora-Wüste kommen Jahr für Jahr 150 bis 250 Grenzgänger ums Leben.

Kakteen, Klapperschlangen

Gamez schleppte sich nach seiner Flucht vor der Grenzpolizei gemeinsam mit einem anderen Mexikaner tagelang durch die Wüste. Ihre Rucksäcke mit Lebensmitteln und Wasser hatten sie beim Weglaufen liegen gelassen. Durstig, hungrig und orientierungslos hielten sie auf den Horizont zu, an dem sich schemenhaft das Tucson-Gebirge abzeichnete. Sie tasteten sich durch Kakteenfelder, wichen Klapperschlangen aus und stießen durch Zufall auf Wasserkanister, die Hilfsorganisationen in der Wüste für vom Verdursten bedrohte Grenzgänger deponiert hatten. In einem verlassenen Wohnwagen schreckten sie eine Buschratte auf, kreisten sie ein, erschlugen sie mit einer Holzlatte, aßen sie. Energie, um weiterzukommen, bis sie in der Dunkelheit Scheinwerfer sahen und auf eine Fernstraße stießen, die sich durch die zerklüftete Wüstenlandschaft zog – das war ihre Rettung.

Zwölf Monate später sitzt Gamez im T-Shirt und mit Truckermütze auf einem Stuhl des Gemeindezentrums der Southside Presbyterian Church in Tucson (Arizona). Er ist durchgekommen und gehört nun zu den etwa 350.000 illegalen Einwanderern, die es im Schnitt pro Jahr in die USA schaffen. Wohin es nun gehen soll, weiß er nicht. Gamez hat keine Wohnung, übernachtet bei einer Freundin, kann Geld nur als Tagelöhner verdienen und spürt, wie die Luft für Illegale unter Trump immer dünner wird. Ob sich der Wahnsinn gelohnt hat? „Es ist verdammt hart hier“, meint Gamez. Aber er halte durch, immerhin habe er den Marsch durch die Wüste überlebt. Es hätte auch anders kommen können, und er wäre auf dem Seziertisch von Dr. Jennifer Vollner gelandet. Bekleidet mit einem fliederblauen Laborkittel und weißen Plastikhandschuhen steht Vollner (31) im Labor des Forensischen Instituts von Tucson und blickt auf sortierte menschliche Knochen: Fund Nummer 17-101 – ein Schädel ohne Kiefer, ein linker Arm samt Schulterblatt, daneben Beckenknochen und Rippenbogen unter dem Neonlicht, die Teile eines makabren Puzzles, bei dem die Biologin herausfinden soll, wer der Tote war, dessen Überreste in der Wüste gefunden wurden.

Wie in diesem Fall kämen die meisten Leichen skelettiert zu ihr, sagt Vollner. Seit über zehn Jahren versuche man an ihrem Institut, den Toten aus der Wüste Namen zu geben. Aus den Überresten gewinne man Personenprofile, die dann in Datenbanken eingetragen würden. Die könne kontaktieren, wer nach vermissten Angehörigen suche. Im Winter ließen die bitterkalten Nächte die Menschen erfrieren. Im Sommer fielen sie der gnadenlosen Hitze zum Opfer, bis zu 47 Grad werde es in der Wüste heiß. „Der Kreislauf setzt langsam aus, dir wird schwindlig, du bekommst Halluzinationen. Bevor sie sterben, drehen viele regelrecht durch“, beschreibt Vollner die Qual des Verdurstens. „Wir bekommen Verstorbene, deren Körper von Verletzungen übersät sind, ihre Kleider liegen vor dem Kakteenfeld, durch das sie vor ihrem Tod gerannt sein müssen.“ Vor allem Frauen würden – wie im Schlaf – auf der Seite liegend gefunden, die Beine angezogen, die Arme schützend um ihre Kinder gelegt. Was im Körper eines Verdurstenden geschieht, ist in Lehrbüchern nachzulesen. Doch was in den Menschen dort draußen in der Wüste passiert, wagt sich Vollner nicht vorzustellen. Sie sagt nur: „Die Wüste ist gnadenlos. Sie verzeiht nichts.“

Wer wissen möchte, weshalb Menschen ihr Leben auf Spiel setzen, um in die USA zu kommen, muss sich mit einem Mann wie Arturo Nieto treffen. Die Geschichte, die hinter einer solchen Entscheidung steckt, ist selten eine kurze, nie eine einfache. Der 53-Jährige sitzt auf einem schwarzen Klappstuhl in einer Migranten-Herberge in Nogales und klaubt sich eine Zigarette unter seiner Nike-Schirmmütze hervor. Und dann erzählt er. Über 4.000 Kilometer weit sei er aus El Salvador bis nach Nogales unterwegs gewesen. Narcos hielten ihm das Messer an die Kehle, mexikanische Polizisten prügelten Geld aus ihm heraus – er musste auf fahrende Züge springen. Mehr als einmal dachte er, es wäre besser, aufzugeben.

Der Grund, es nicht zu tun, war sein Sohn. Nieto hatte es schon einmal, Ende der 1980er Jahre, in die USA geschafft. In Maryland arbeitete er als Bauarbeiter, heiratete, bekam einen Sohn, lebte 18 Jahre in den Staaten, um dann wegen Trunkenheit am Steuer abgeschoben zu werden. Die Ehe ging in die Brüche, die Liebe zu seinem Sohn blieb. Weil der nicht ohne Vater aufwachsen soll, will Nieto zu ihm zurück – unbedingt. „Ich lasse ihn nicht allein. Trumps Politik ist mir egal. Von mir aus wandere ich in den Knast, wenn sie mich schnappen.“ Also wartet Nieto in der Albergue para Migrantes auf den richtigen Zeitpunkt, um die Wüste zu durchqueren. Er kenne die Gefahren. Sagt er zumindest. Und er sei nicht mehr der 23-jährige Deserteur, der einst vor dem Bürgerkrieg in El Salvador in den Norden geflohen ist. Man hört seinen rasselnden Atem und ahnt, was ihm die Wüste abverlangen wird. Nieto sagt: „Ich habe ein Messer, um Schlangen zu häuten und ihr Blut zu trinken. Eine Schaufel, um im Wüstensand nach Grundwasser zu graben. Das reicht zum Durchkommen.“

Patrick Witte ist freier Autor und hat seine Grenzgeschichte vor Ort recherchiert

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