Wie kriegt man ein schnarchendes Rhinozeros dazu, ein Kölsch-Fass zu öffnen? Viele Kino-Zuschauer wissen inzwischen, wie das geht. Zwei Erdmännchen machen es vor. Auf Zehenspitzen nähern sie sich dem Ungetüm und schleudern ihm eine Walnuss an den Kopf. Das Rhinozeros wird wach, erblickt die Übeltäter, gerät in Rage und nimmt die Verfolgung auf. Die Erdmännchen schlagen einen Haken und schon ist das Rhinozeros ausgetrickst. Trotz Vollbremsung stößt es mit der Spitze seines Horns ins Fass. Zischend schäumt das Bier heraus. Die Rechnung der Erdmännchen ist aufgegangen.
Aufgehen könnte auch die Rechnung der Kölsch-Brauerei, die den Werbespot bei der Hamburger Firma Lauenstein Lauenstein in Auftrag gegeben hat. Um Christoph und Wolfgang Lauenstein muss man sich ebenfalls keine Sorgen machen. Vor der spätklassizistischen Villa, in der sie ihr Studio haben, stehen zwei Sportwagen, auf den Nummernschildern die Initialen der Besitzer. "War es denn Ihr Ziel, Werbespots zu drehen?", frage ich Christoph Lauenstein. "Nein", sagt er ohne zu zögern, "das ist sicherlich kein Ziel, wenn man gerade solche Filme macht." "Solche Filme" - damit ist der Kurzfilm gemeint, der die Zwillingsbrüder im Jahr 1990 einige Minuten lang weltberühmt machte: Balance.
Fünf hagere männliche Gestalten balancieren auf einer quadratischen Platte, die im Weltall zu schweben scheint. Macht einer einen Schritt, beginnt die Platte zu kippen. Die Anderen müssen sofort ihre Position verändern, sonst würden sie ins Nichts rutschen. Es ist eine alptraumhafte Situation. Obwohl es nur ein Puppentrickfilm ist, werden beim Zuschauen die Hände feucht. Der Anblick der fünf Gestalten trägt nicht zur Beruhigung bei: Sie haben kleine weiße Schädel mit großen Glupschaugen. Die Geschichte kommt in Gang, als einer der Fünf aus dem Weltall eine schwere Kiste angelt. Sie bringt nicht nur das Gleichgewicht durcheinander, sondern führt auch zu einem Streit, der bald handgreiflich wird. Einer nach dem anderen stürzt von der Platte oder wird herunter gestoßen. Der Letzte kann seinen Sieg freilich nicht auskosten: Die Kiste bleibt ihm verschlossen. Würde er sich ihr nähern, verlöre er selbst die Balance.
So düster die Geschichte, so strahlend der Erfolg: Die beiden jungen Deutschen gewannen einen Oscar in der Sparte kurzer Animationsfilm. Es ist der bislang einzige Oskar für eine deutsche Produktion in diesem Genre geblieben und war damals eine Sensation wie der Wimbledon-Sieg eines 17-Jährigen namens Boris Becker. Christoph und Wolfgang Lauenstein waren am Tag ihres Triumphs zwar bereits 27, aber auf dem Presse-Foto aus Hollywood sehen sie deutlich jünger aus. Deutschland war angetan. Richard von Weizsäcker höchstselbst heftete den Brüdern das Bundesverdienstkreuz ans Revers. Der Kurzfilm Balance wird mittlerweile in drei Museen vorgeführt, darunter das Haus der Geschichte in Bonn.
Kurze Geschichte der deutschen Oscargewinner
1929 wurde zum ersten Mal der Oscar in der Kategorie "Bester Hauptdarsteller" verliehen und ging gleich an einen Deutschen. Emil Jannings erhielt den Preis für seine Darstellung in The Way of all Flesh und Sternbergs The last Command. Das war in den Tagen des Stummfilms und noch interessierte sich niemand so richtig für die Academy Awards. Jannings, der kaum Englisch sprach, war bei der Preisverleihung nicht einmal anwesend. Als sich in Hollywood der Tonfilm durchsetzte, standen die Chancen deutscher Schauspieler schlecht: ihre "fürchterlichen" Akzente verurteilten sie dazu in Hollywood Filmen Nazi-Verbrecher in Nebenrollen zu mimen. Nur Marlene Dietrich war eine Ausnahme. Natürlich. Ihre dunkle, sinnliche, leicht Akzent angehauchte Stimme war Markenzeichen ihrer Rollen. Sie hatte Glück: man war damals noch Star statt Schauspieler. Für den Oscar nominiert wurde sie allerdings nicht.
Der erfolgreichste Deutsche der Oscar Geschichte ist Maximilian Schell. Es ist wenig bekannt in Deutschland, dass er die Trophäe 1961 als "Bester Männlicher Darsteller" erhielt und danach noch weitere vier Male (unter anderem als Regisseur und Autor) nominiert wurde. Erstaunen mag auch der Erfolg von Bernhard Grzimeks Serengeti darf nicht sterben - er gewann den Oscar für die "Beste Dokumentation" im Jahre 1959.
Erfolgreich waren die Deutschen schon immer eher in den Nebenkategorien. Bester Animierter Kurzfilm Balance für die Brüder Lauenstein (1989), Beste Filmmusik für Hans Zimmer für König der Löwen (1995), Beste Special Effects von Volker Edel und Team für Independence Day (1996) oder Bester Kurzfilm für Pepe Danquarts Schwarzfahrer (1993) und für Florian Gallenbergers "Quiero Ser" (2000).
Trotz mehrerer Nominierungen erhielt den Oscar für "Bester Ausländischer Film" bisher nur ein Deutscher: Volker Schlöndorff für Die Blechtrommel (1979). Seitdem versuchen deutsche Filmemacher sich in dieser Kategorie zu behaupten. Erfolglos. Lola rennt galt 1999 zwar als heißer Favorit - wurde dann aber nicht einmal nominiert. Nichtsdestotrotz wurden die US-Produzenten auf das junge Team aufmerksam: Tom Tykwer und Franka Potente arbeiten seither verstärkt in Hollywood. Potente gilt nach ersten kleineren Rollen sogar als möglicher Kultstar. Da liegt der Oscar für die "Beste Weibliche Darstellerin" vielleicht nicht mehr so fern.
Christoph Lauenstein sieht immer noch sehr jugendlich aus. Man würde ihn eher auf Ende Zwanzig schätzen als auf Ende Dreißig: ein sportlicher blonder Typ mit blaugrauen Augen und Drei-Tage-Bart. Der Eindruck täuscht. Easy Living ist nicht Lauensteins Sache. Seine Sätze sind klar, aber farblos, beinahe kommuniquéhaft. Nach seinen Gefühlen bei der Oscar-Verleihung gefragt, sagt er: "Das ist eine sehr surreale Situation, die man auch so schnell nicht vergisst." Was Wunder, wenn eine Milliarde Menschen zuschauen.
So richtig wohl gefühlt haben sich die Brüder dabei nicht. Mehr trotzig als triumphierend halten sie ihre Oscars in die Kamera. Und dazu machen sie auch noch, ausgerechnet in Hollywood, ein ernstes Gesicht. "Na ja", sagt Lauenstein, "das ist so von Natur aus bei uns - wir sind eher introvertiert." Aber damit kein Missverständnis aufkommt, fügt er hinzu: "Also wir haben uns schon durchaus gefreut in dem Moment."
Christoph Lauenstein neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen. Erst recht nicht neigt er dazu, öffentlich über Gefühle Auskunft zu geben. Er hat sich um ein Interview auch nicht gerissen. Höflich wie er ist, hat er aber auch nicht Nein gesagt. Das Medien-Echo auf die Oscar-Verleihung hat er in zwiespältiger Erinnerung. Die Bild-Zeitung eröffnete ihren Lesern, dass die Brüder, als sie im Keller des elterlichen Hauses in Hildesheim an ihrem Kurzfilm arbeiteten, von der Mutter mit Kaffee und Kuchen versorgt wurden. Und der Spiegel dichtete: "Zwillinge aus einem Ei und wie aus dem Ei gepellt." Solche Kalauer sind nicht nach Lauensteins Geschmack: Die Berichterstattung in Deutschland sei doch sehr boulevardmäßig gewesen.
Bild und Spiegel werden mit dieser Kritik leben können, während Christoph Lauenstein offenbar zu dem Schluss gekommen ist, dass man besser in Deckung bleibt. Meist lässt er den Gesprächspartner mit einer Formulierung in Vorlage gehen und sagt dann leise "ja, genau" oder "richtig" oder - sicher ist sicher - "wenn man so will". Er hat eine angenehme Stimme. Gelegentlich lacht er verhalten, beinahe ein wenig verlegen. Das wirkt sympathisch und überdies verschafft es dem Besucher die Gewissheit, dass ihm wirklich Christoph Lauenstein gegenüber sitzt und nicht ein im Studio Lauenstein für unvermeidliche Pressetermine generiertes Double.
An die Öffentlichkeit wendet sich Lauenstein lieber indirekt. Womit wir wieder bei der Werbung sind. Nach dem Oscar-Erfolg brachen die Brüder ihr Studium ab, "einfach auch um die Bekanntheit zu nutzen", wie Lauenstein offen sagt. "Damals haben wir gedacht, okay - wir machen ein bisschen Werbung zum Geldverdienen, und machen unsere eigenen Filme." Es kamen dann auch sehr schnell Aufträge. Nicht ohne Stolz erwähnt Lauenstein Auftraggeber wie Nike und Coca-Cola. Die Werbung - das ist ihm wichtig - sei von dem, was ihnen anfangs vorschwebte, so weit gar nicht entfernt. Auch hier haben sie die kleine Form. Auch hier müssen sie sich für jeden neuen Spot eine künstliche Welt ausdenken. "Deswegen macht uns das so viel Spaß."
Eine eigene Welt schaffen - schon früh haben sich die Brüder genau deshalb für den Animationsfilm und gegen den Realfilm entschieden. Während die Anderen für ihre ersten Filme Freunde und Verwandte vor die Kamera holten, bauten Christoph und Wolfgang ihre Schauspieler lieber selbst. Man könne eben beim Trickfilm "alles noch besser kontrollieren". Auch bei Balance hätten sie alles selbst gemacht, einschließlich der Musik. "Da blieb nichts der Willkür anderer Leute überlassen." Christoph Lauenstein, kein Zweifel, ist ein Perfektionist. Perfekt aber kann nur die Welt sein, die er und sein Bruder allein gestalten.
Einiges verrät Christoph Lauenstein aber doch. Schon am Telefon sprach er von der Arbeitsteilung, die sich zwischen ihm und seinem Bruder entwickelt hat. Er mache Regie - "und die Außenkontakte!", werfe ich ein - "genau, wenn man so möchte. Und mein Bruder ist derjenige, der die doch sehr zeitaufwendige Arbeit der Animation macht und des Figurenbaus und eigentlich ganz froh ist, dass er so seine Ruhe hat, dass ich ihm so den Rücken freihalte." - "Ihr Bruder ist also ein Tüftler?" - "Ja, genau." - "Gibt es auch sonst Unterschiede zwischen Ihnen?" - Christoph Lauenstein seufzt, überlegt und sagt dann: "Zwischen meinem Bruder und mir?"
Ich komme mir vor wie ein Rhinozeros, das zwei Erdmännchen nachjagt, von denen das eine Haken schlägt, während das andere sich gar nicht blicken lässt. Und dafür gibt es noch nicht mal ein Kölsch. Wir sind ja auch in Hamburg. Aber es gibt eine Antwort: Sein Bruder und er, so betont Christoph Lauenstein, seien nicht die typischen eineiigen Zwillinge. "Wir trennen unser Privatleben sehr deutlich und sehr konsequent." Wieder so ein Kommuniqué-Satz. Für alle Fälle sagt Lauenstein es noch deutlicher: "Es kommt äußerst selten vor, dass wir privat zusammen etwas unternehmen."
Die Zwillinge wollen als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Auf der Schule, erinnert sich Lauenstein, habe man sie nicht mit Namen anreden können, weil sie einander so sehr glichen. "Wir haben uns also quasi wie halbe Personen gefühlt", sagt er noch ein wenig leiser als sonst. "Wir waren heilfroh, dass unser damaliger Klassenlehrer das erkannt hat und uns in zwei verschiedene Klassen gesteckt hat." Erst von diesem Zeitpunkt an hätten sie eine eigene Individualität aufbauen können. Sie haben dann auch in verschiedenen Städten studiert: Christoph in Kassel, Wolfgang in Hamburg. Erst die Arbeit an Balance hat sie wieder zusammengebracht.
Christoph Lauenstein räumt ein, dass die enge Zusammenarbeit mit dem Zwillingsbruder auch nicht unproblematisch ist. "Es fehlt ein bisschen der frische Input von außen." Aber den könne man sich ja holen. Mitarbeiter würden ermuntert, "ihre Gedanken und Ideen mit einzubringen". Am liebsten und im Zweifel aber bleiben Christoph und Wolfgang Lauenstein in ihren künstlichen kleinen Welten die alleinigen Herrscher.
Auch deshalb halten sie ihre Kosten niedrig. In der Villa im Hamburger Stadtteil Lokstedt sind die Brüder lediglich Untermieter. Mitarbeiter stellen sie nur für konkrete Projekte an. "So haben wir die eine oder andere Flaute locker umschiffen können." Sie nutzen die Flauten auch, um an Projekten zu arbeiten, die mit der Werbung nichts zu tun haben. Was ihnen ursprünglich vorschwebte und was sie mit Balance so glänzend begannen, ist also keineswegs ad acta gelegt. "Und woran arbeiten Sie da?" Die Frage hätte ich mir sparen können. Auch diese Kiste bleibt vorerst zu.
Dafür zeigt mir Christoph Lauenstein das Studio. Hinter einem Monitor sitzt ein junger Mann. "Mein Bruder." Wolfgang Lauenstein begrüßt den Besucher freundlich und beugt sich wieder über seine Arbeit. Er ist erst auf den zweiten Blick als der Zwillingsbruder zu erkennen, aber das mag auch an dem Gegenlicht liegen, das durch das große Fenster hinter ihm hereinfällt. Die Trickfilm-Bühne, von zahlreichen Scheinwerfern umstellt, ist kaum größer als ein Kasperle-Theater. Als Bühnenbild dient ein roter Karton - der Hintergrund für die Kölsch-Reklame. Vor der Kamera posiert ein Erdmännchen; es besteht aus Plastilin und ist so groß wie ein Karnickel. Das Rhinozeros ist nicht viel größer, was die Zuschauer natürlich nicht bemerken können.
Schließlich holt Christoph Lauenstein auch noch seinen Oscar. Das Ding ist bleischwer. Es sei wohl teilweise wirklich aus Blei, vermutet Lauenstein - vom Material her nicht viel wert. "Aber", sagt er mit seinem verhaltenen Lachen, "darum geht´s ja nicht!"
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