Krähen am Adlerhorst

Wer glaubt, dass es am Obersalzberg spukt, der täuscht sich nicht Mitten in Berchtesgaden hebt ein Bauer in Lederhosen den Arm zum Hitler-Gruß. Wir reiben uns die Augen. Es ist der linke Arm, stellen wir erleichtert ...

Mitten in Berchtesgaden hebt ein Bauer in Lederhosen den Arm zum Hitler-Gruß. Wir reiben uns die Augen. Es ist der linke Arm, stellen wir erleichtert fest. Der Hitler-Gruß kann es also nicht sein. Außerdem ist der Bauer nur gemalt - Teil eines Wandgemäldes am Schlossplatz; es stellt eine Kreuzigungsszene dar, die als Kriegerdenkmal gedacht ist.

Der voreingenommene Besucher sieht in Berchtesgaden leicht Gespenster. Als wir in der Dunkelheit die Maximilianstraße hinaufgehen, fällt mein Blick auf ein Café namens »Der Totmacher«. Ein paar Schritte weiter sehe ich, was auf dem Schaufenster wirklich steht: »Der Tortenmacher«.

Beim Abendessen im Gasthaus nimmt das Gespenst schärfere Konturen an. »Er hatte ja immer seine Paladine«, lässt sich eine Frau um die sechzig vernehmen; »die haben gemacht, was sie wollten«. Kein Zweifel, wer mit »er« gemeint ist. Was die Paladine gemacht haben, geht im Geräuschpegel des Gasthauses unter. Die Frau hat sich mit ihrem Begleiter zwei Tische weiter niedergelassen. Die beiden essen Speckknödel, das Gleiche wie wir. Die Frau bleibt beim Thema. Göring und Goebbels hätten jedes Mal, wenn sie von Hitler gekommen seien, gesagt, er sei ja wieder voller Optimismus gewesen. Und noch ein Satzfetzen dringt herüber: Ab 1941 sei es mit seinem Ansehen ja bergab gegangen.

Sitzt da eine Nazi-Anhängerin am Tisch? Schwer zu beurteilen. Die Äußerungen der Frau, soweit wir sie mitbekommen, haben einen rechtfertigenden Unterton. Mehr lässt sich dazu nicht sagen. Der Mann, auf den sie einredet, gibt keine Interpretationshilfe ab. Er brummt nur gelegentlich und isst weiter seine Speckknödel.

Sonst hören wir an diesem Herbstwochenende niemanden über Hitler reden. Die Berchtesgadener - es sind freundliche Leute - scheinen übereingekommen zu sein, den einstmals prominentesten Kurgast lieber gar nicht zu erwähnen. Warum sollten sie auch? Dass Hitler dort seinen zweiten Wohnsitz nahm, ist allgemein bekannt. Aber das Schweigen darüber kommt uns doch ziemlich laut vor.

Vielleicht sind die Berchtesgadener es auch einfach leid, immer wieder mit einer Vergangenheit konfrontiert zu werden, die sie sich nicht ausgesucht haben. »Wo geht´s denn zum Obersalzberg?«, frage ich die junge blonde Frau am Info-Schalter im Kurhaus. »Der Obersalzberg ist ein ganz normales Wohngebiet«, antwortet die Blonde kühl. »Wo möchten Sie denn da hin?« Jetzt muss der Besucher Farbe bekennen. »Ich möchte sehen, wo Hitlers Berghof stand.« - »Da gibt es nur das Dokumentationszentrum«, sagt die junge Frau, greift nach einem Straßenplan und malt mit Filzstift einen Kringel darauf. »Von dort fahren auch Busse zum Kehlsteinhaus.«

Die Buslinie 49 vom Parkplatz Hintereck am Obersalzberg zum Kehlstein dürfte die profitabelste Linie Deutschlands sein. Unser Bus ist bis auf den letzten Platz besetzt, ein zweiter ebenso. Für Hin- und Rückfahrt sind pro Person nicht weniger als zwölf Euro fällig. »Kein Wunder ist der Stoiber nicht Kanzler geworden, wenn die hier in Bayern so die Leute abzocken«, sagt ein Herr mit schwäbischem Akzent. Den eigenen Wagen zu nehmen ist nicht erlaubt. Die gut sechs Kilometer lange, steile Serpentinenstraße darf nur von den Bussen genutzt werden. Über Tonband und Bordlautsprecher erfahren wir das Wichtigste zu unserem Ausflugsziel, und zwar im Klartext: Auf Vorschlag Martin Bormanns habe die NSDAP das Haus auf dem Kehlstein Hitler zum 50. Geburtstag geschenkt.

Das Kehlsteinhaus ist eines der wenigen von Hitler genutzten Gebäude, die erhalten sind. Der »Berghof«, Hitlers luxuriöser Landsitz auf dem Obersalzberg, wurde von den Alliierten zerbombt. Schon Anfang der fünfziger Jahre ließ die Bayerische Staatsregierung die Ruinen sprengen. Sie wollte verhindern, dass der Obersalzberg zur Pilgerstätte für Nazi-Nostalgiker würde. So verständlich und richtig die Entscheidung der Regierung war - sie hat auch etwas Fatales. Die Nostalgie, aber auch die Neugier verschwinden nicht, wenn man ihnen den Gegenstand wegnimmt. Eher werden sie noch gestärkt.

Bis in die achtziger Jahre hinein konnte man in Berchtesgaden und auf dem Obersalzberg fragwürdige Hochglanzbroschüren kaufen. Biographie des Dritten Reiches hieß eine davon, die ich bei Verwandten gefunden habe. Da kann man Hitler noch sehen, wie er gesehen werden wollte: als Mann voller Optimismus, der auf dem Berghof hohe Gäste wie den Herzog von Windsor empfängt oder kleinen blonden Mädels übers Haar streicht. »Der Alltag des Führers auf dem Obersalzberg« ist ein Kapitel überschrieben. »Sehr selten«, heißt es da, »hatte Adolf Hitler Gelegenheit, unbeschwert und frei von Regierungsgeschäften sich zu einer privaten gemütlichen Kaffeestunde ...« Fehlt nur noch die Mitteilung, welche Torte der Totmacher bevorzugte.

Dem Ruf Berchtesgadens waren weder die Broschüren noch deren Käufer zuträglich. Inzwischen hat sich das Bild gewandelt. Zwar werden in Berchtesgaden und am Obersalzberg immer noch Hochglanz-Broschüren zum Thema Adolf Hitler und Eva Braun, Berghof und Kehlsteinhaus angeboten. Aber der Nazi-Kitsch ist herausgenommen worden, und man sieht darin auch keine liebevoll rot kolorierten Hakenkreuz-Fahnen mehr. Mit Hitlers Ansehen ist es definitiv bergab gegangen.

Der Ausflug zum Kehlstein-Haus ist auch deshalb spannend, weil man das Ziel nur in Etappen erreichen kann. Ein in den Kehlstein getriebener, hundert Meter langer Gang führt zur letzten Etappe, einer Aufzugfahrt mitten durch das Felsmassiv. Am Ende des Gangs müssen wir noch einmal vor einer Bronzetür warten, die wie der Eingang zu einer Grabkammer aussieht. Ein amerikanischer Tourist lobt die Arbeit der Steinmetzen. Wir betreten einen runden Kuppelraum. Ringsum leuchten dreiarmige Bronzekandelaber. Dazwischen hängt eine Tafel des Kehlstein-Gastronomen: »Ofenfrischer Schweinebraten mit Semmelknödeln und Sauerkraut«.

Die Tür zum Aufzug ist in Marmor gefasst. Ein leichter Grusel überkommt uns bei der Vorstellung, dass auch Hitler hier durchgegangen ist. Der traute sich nur mit seiner SS-Leibwache hinauf. Auch im Nachhinein empfindet man noch ein wenig Schadenfreude. Wer durch Gewalt herrscht, muss ständig Angst haben, selbst gewaltsam umzukommen. Dafür gibt es ja auch lebende Beispiele.

Sanft und ruckfrei gleitet der Aufzug 124 Meter hoch mitten durch den Berg. Wir kommen im Kehlsteinhaus an. Bierdunst und Geschirrgeklapper schlagen uns entgegen. Gleich rechts liegt der repräsentativste Raum des Hauses, das Oktogon. Der Raum wird beherrscht von einem mannshohen Kamin mit einer dunkelroten Marmorfassung, einem Geschenk Mussolinis. Der Kamin, die Balkendecke und die obligatorischen Bronzekandelaber ergeben die für den Nazi-Stil typische Mischung aus Prunk und Spießigkeit. Die letzte Nazi-Fete, die in dieser Räuberhöhle stattfand, war die Hochzeit der Schwester Eva Brauns mit einem SS-Offizier. Jetzt kann man an Mussolinis Kamin ofenfrischen Schweinebraten essen.


Eagle´s Nest« wird das Kehlsteinhaus für die amerikanischen Touristen genannt. Um den Adlerhorst flattern aber nur ein paar Krähen, die scharf auf den Proviant der Touristen sind. Dafür ist der Ausblick aus 1834 Meter Höhe wirklich eindrucksvoll, selbst an einem regnerischen Herbsttag. Vor uns liegt das ganze Berchtesgadener Land, liegen Watzmann und Königssee. Ein dicker grauhaariger Australier, der mit seiner Schirmmütze und seinem schwarzen Mantel mit goldenen Knöpfen aussieht wie ein Kapitän im Ruhestand, bittet uns, ihn zu fotografieren. Seine deutschen Freunde in Australien würden ihm sonst nicht glauben, dass er hier gewesen sei.

Dem Ausblick aus dem Adlerhorst folgt der Absturz in die Vergangenheit. Die »Dokumentation Obersalzberg« liegt unweit des Parkplatzes Hintereck. Der Ausstellungsbesucher wird von einem naiven Nazi-Gemälde empfangen: Hitler, der beinahe wie Charlie Chaplin in dem Film Der große Diktator aussieht, schwingt eine Hakenkreuzfahne. Flankiert wird das Bild von vier großen Fotografien - zwei auf jeder Seite. Das erste Bild zeigt ukrainische Zivilisten, die von der Wehrmacht an einem Balkon aufgehängt wurden. Auf dem zweiten sieht man alte Frauen in den Trümmern des zerstörten Nürnberg, auf dem dritten die gefrorene Leiche eines deutschen Soldaten vor Stalingrad, auf dem vierten schließlich die Leichen ausgemergelter Häftlinge im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Der Besucher weiß also auf einen Blick, was ihn erwartet - eine Dokumentation ohne jede Beschönigung.

Ein abgewinkelter Gang führt zu den unterirdischen Bunkeranlagen, von denen ein kleiner Teil dem Dokumentationszentrum angegliedert wurde. Wir gehen durch niedrige, spärlich erleuchtete Gänge. Maueröffnungen geben den Blick frei in Fluchten verliesartiger Räume. Die Luft ist feucht und kalt. Ein Gang endet an einem Aufzugschacht. Der Schacht ist derart groß, dass der Aufzug die Dimensionen einer Doppelgarage haben könnte. Wasser tropft hinab. Es haben sich Tropfsteine gebildet. Man blickt in einen schwarzen Abgrund.

Draußen empfängt uns die herbstliche Sonne. Dennoch dauert es eine Weile, bis die Vorstellung verschwindet, der Schatten von Hitlers Berghof liege auf dem Obersalzberg wie ein Fluch. In der Nähe des Dokumentationszentrums erstreckt sich eine riesige Baustelle. »Mit Förderung durch den Freistaat Bayern« entstehen »zentrale Parkflächen«. Daneben wird ein Luxushotel mit 140 Zimmern gebaut, Golfplatz inklusive. Wie ein ganz normales Wohngebiet sieht das hier nicht aus.

Von einem »Spannungsverhältnis zwischen Vermarktung und Verdrängung« schreibt Albert Feiber vom Münchner Institut für Zeitgeschichte in einem Text-Bild-Band zur Dokumentation. Das Geleitwort des bayrischen Finanzministers Kurt Faltlhauser beginnt mit dem Satz: »Wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft verantwortungsvoll gestalten.« Man wird dem Minister nicht zu nahe treten, wenn man annimmt, dass er auch an die Gestaltung der touristischen Zukunft Berchtesgadens dachte. Konkret heißt das: ohne Dokumentationszentrum kein Luxushotel.

Der Bauer in der Kreuzigungsszene am Schlossplatz irritiert uns nicht nur durch seinen erhobenen linken Arm. Den rechten Arm hat er dem Gekreuzigten um die Hüfte gelegt. Vielleicht muss man das so verstehen, als wollten die Berchtesgadener auf handgreifliche Art um Beistand bitten.

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