Krebs ist ein unbarmherziger Gegner. Man könnte fast meinen, er verfolge seine eigenen, teuflisch ausgeklügelten Pläne. Denn Krebszellen sind darauf programmiert, fest definierte Stufen der Veränderung durchzumachen, die anscheinend darauf gerichtet sind, ihre Überlebensfähigkeit zu steigern und ihre Ausbreitung über den Blutkreislauf zu fördern. Es grenzt fast an Konspiration, wenn die Tumore chemische Signale nutzen, um in inneren Organen krebsfreundliche Nischen zu schaffen.
Auf der fieberhaften Suche nach einem schwer zu fassenden „Heilmittel“ treten nur wenige Forscher eine Schritt zurück und stellen eine sehr einfache Frage: Wieso gibt es Krebs? Welche Rolle nimmt er in der großen Geschichte des Lebens ein?
Krebs scheint ein Teil der grundlegenden Lebensmaschinerie zu sein – eine Art fehlerhafter Zustand, der von einer Vielzahl von Auslösern aktiviert werden kann: von Strahlung, Chemikalien, Entzündung und Infektionen. Das legt nahe, dass es sich nicht um eine moderne Abweichung handelt, sondern dass Krebs tiefe evolutionäre Wurzeln hat. Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass er nicht auf Menschen beschränkt ist, sondern bei Säugetieren, Fischen, Reptilien, ja selbst Pflanzen weit verbreitet ist. Wissenschaftler haben Gene identifiziert, die mit Krebs zu tun haben und die Hunderte von Millionen Jahren alt sein sollen.
Krebs als Teil der Evolution
Nur im Kontext der Biologiegeschichte kann man Krebs voll verstehen. Zwei Brüche in der Evolutionsgeschichte sind besonders bedeutsam. Der erste fand vor über zwei Milliarden Jahren statt, als große, komplexe Zellen entstanden, die Mitochondrien enthielten – winzige Fabriken, welche die Zelle mit Energie versorgen. Biologen gehen davon aus, dass Mitochondrien Überbleibsel von Urbakterien sind. Bezeichnenderweise entwickeln gerade diese Zellen sich auch bei Ausbruch einer Krebserkrankung systematisch weiter und verändern ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften grundlegend.
Für die längste Zeit der Geschichte der Erde beschränkte sich Leben auf Einzeller. Mit der Zeit entstand aber eine neue Möglichkeit. Die Atmosphäre der Erde wurde von einem hochgiftigen und reaktionsfreudigen chemischen Stoff verschmutzt, einem Abfallprodukt der Photosynthese: Sauerstoff. Die Zellen entwickelten raffinierte Strategien, um entweder den verbindenden Sauerstoff zu vermeiden oder Schaden durch Oxidation in ihrem Innern abzuwehren. Einige Organismen machten aus der Not eine Tugend und fanden einen Weg, Sauerstoff als neue Energiequelle auszunutzen. In modernen Organismen sind es Mitochondrien, die diese gefährliche Substanz dazu nutzen, die Zelle mit Energie zu versorgen.
Vertragsbruch
Mit dem Auftauchen energiereicher, sauerstofffressender Zellen war der Weg frei für den zweiten großen, für Krebs relevanten Evolutionsbruch: die Entstehung von Vielzellern. Diese erforderte einen drastischen Wandel in der grundlegenden Logik des Lebens. Einzeller müssen sich immer wieder replizieren. In diesem Sinne sind sie unsterblich. In Mehrzellern dagegen haben die einfachen Zellen ihre Unsterblichkeit an spezialisierte Keimzellen abgegeben – Spermien und Eier. Ihre Aufgabe besteht darin, die Gene in künftige Generationen zu tragen. Der Preis, den die einfachen Zellen dafür zahlen, ist der Tod. Alle einfachen Zellen sind darauf programmiert, Selbstmord zu begehen, wenn ihr Verfallsdatum abgelaufen ist – ein Prozess, der als Apoptose bekannt ist. Die Apoptose wird ebenfalls von Mitochondrien bewerkstelligt.
Krebs beinhaltet einen Zusammenbruch des Vertrags zwischen Keimzelle und den restlichen Zellen. Bösartige Zellen setzen die Apoptose außer Kraft. Wenn sie in Nischen überhand nehmen, macht sich das als Tumor bemerkbar. In diesem Sinne ist Krebs schon lange als Rückfall in eine Ära der „selbstsüchtigen Zelle“ erkannt worden. Aber jüngste Fortschritte der Forschung erlauben es, dieses Bild zu erweitern. So gedeihen Krebszellen unter sauerstoffarmen Bedingungen, indem sie zu einer früheren, wenn auch weniger effizienten Form des Stoffwechsels zurückkehren, die als Fermentation oder Gärung bekannt ist.
Biologen sind mit der Tatsache vertraut, dass Organismen alte genetische Eigenschaften in sich tragen können, die die Vergangenheit ihrer Vorfahren spiegeln, etwa wie die atavistischen Stummelschwänze oder die überzähligen Brustnippel, mit denen manche Menschen geboren werden. Die Evolution baut notwendig auf früheren Genomen auf. Manchmal werden ältere genetische Pfade nicht abgelegt, sondern nur unterdrückt. Atavismen entstehen, wenn etwas diesen Unterdrückungsmechanismus unterbricht.
Zeitreise rückwärts
Charles Lineweaver von der Australian National University und ich haben eine neue Theorie des Krebses aufgestellt, die auf die uralten evolutionären Wurzeln von Krebs zurückgreift. Wir sind überzeugt, dass fortschreitender Krebs im Körper den Pfeil der evolutionären Zeit in beschleunigter Weise umkehrt. Zunehmende Deregulierung lässt die Krebszellen zu immer früheren genetischen Pfaden zurückkehren. In der Folge wiederholen sich Lebensweisen aus der Frühzeit der Vielzeller. Unserer Theorie nach bilden die am meisten entwickelten und bösartigsten Krebsformen Aspekte des Lebens auf der Erde vor mehr als einer Milliarde Jahren nach.
Gene aus der Frühzeit können jedoch nur dann ihre Funktionen erhalten, wenn sie weiter einen biologischen Zweck erfüllen. Einen solchen Zweck gibt es: Im Frühstadium der embryonalen Entwicklung unterstützen die Frühzeit-Gene bestimmte Entwicklungsprozesse. Alle Menschen haben als Embryonen eine zeitlang Schwanz und Kiemen. Forscher haben vor kurzem sogar frühzeitliche embryonale Gene identifiziert, die bei Krebs wiedererweckt werden.
Die tiefgehenden Verbindungen zwischen Evolution, Entwicklungsbiologie und Krebs haben enorme Implikationen für die Therapie und bieten einen ganz neuen Anlass, Krebsforschung zu betreiben: Durch die Enträtselung von Details der Krebsentwicklung können Wissenschaftler ein Fenster öffnen, durch das wir faszinierende Einblicke in das Leben in einer längst vergangenen Zeit gewinnen können.
Paul Davies ist Direktor des Beyond Center for Fundamental Concepts in Science an der Arizona State University und Autor des Guardian
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