Das analoge Schalentier

Digital-Biedermeier Unser Autor als selbsternanntes analoges Schalentier, langsam und langweilig oder: die grüne Nachtleiche ohne den 9ten Nußknacker

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Ein Schalenweichtier
Ein Schalenweichtier

Foto: PRAKASH MATHEMA/AFP/GettyImages

''Ach, wie ein Knabe seh' ich zu Boden oft,
such' in der Höhle Rettung von dir, und möcht'
Ich Blöder, eine Stelle finden,
Alleserschütt'rer! wo du nicht wärest.''

Friedrich Hölderlin, Der Zeitgeist

Woher mein Entschluss kam, langweilig zu sein müssen, das kann ich jetzt gar nicht sagen. Aber es soll mir nun gelten, langweilig zu leben oder vielmehr: das, was bisher schon langweilig wirkt in meinem Leben, noch zu übersteigern.

Ich muss berichtigen oder adjustieren: mir selbst ist die eigene Langeweile aufregend, aber zur Langeweile wird es der Masse und den Meisten. Was also mich an-, auf- und erregt, ist der Masse und den Meisten langweilig (in dieser Hinsicht war ich mit meinen Hobbies immer schon ein Nerd, nur ein analoger). Was wiederum die Masse und die Meisten an-, auf- und erregt, das ist mir langweilig, fade und schal. Solange dagegen meine Langeweile nur ihren Gegenstand oder Widerstand hat, an dem sie arbeiten oder sich abarbeiten kann, da ist es mir spannend und ich bin auf- und angeregt.

Ich habe beschlossen: es muss digitale Enthaltung her. Das Digitale wird zum Grundrauschen und das sind mir zuviele Reize nebenher. All diese Reize haben mich in der letzten Zeit (ich kann diese ''letzte Zeit'' nicht festlegen) überfüttert und zunehmend angewidert. Hysterie, die meine werden sollte, wurde zumindest mein Ärger, meine Überforderung und meine
Pest. Soviele Reize, immer neu gesetzt, dass am Ende alles stumpf zu werden drohte. Absolute Dauer-Neudraufigkeit, alles dauernd neu und refresht und auf Masse geschneidert. Und wo soll ich da aufgehen koennen? Wo soll mein Geist da Anregung finden, da es ihn staendig verdraengt und ueberreizt und all das Aufregend-Sein-Sollende ihn so dermaßen langweilt?

Die Lösung liegt darin, mich zum analogen Schalentier zu erklären, selbst zu ernennen. Ich setze dem Internet Schließzeiten, ich setze diese Schließzeiten fest und fuehle mich nicht albern dabei. Da raunt es im Publikum ''Internet-Abgesang!!'' und ''Warum schreibst du das dann im Internet und lebst es nicht einfach analog?'' oder noch trolliger: ''Dann halte die Schnauze und blogge nicht drueber!'' (das sind interessanterweise die Leute, die sowas zwar absolut super finden, selbst aber nicht leben koennen und andere dafuer dann stellvertretend wie einen Hund leiden sehen wollen) und ich sage dazu: ich bin online hier und da, aber ich bin es zunehmend weniger und will es weniger sein. ''Digitaler Biedermeier!'' ruft nun ein anderer vielleicht und ich nicke dazu.

Das ist mein Entschluss: digitalen Biedermeier zu leben...''social media'' ist nie bei mir angekommen, ich twittere einen Post alle 1.5 Jahre, facebook kann und bin ich nicht und will mich nicht dafuer interessieren muessen und es gibt sicher ganz tolle Optionen und die will ich aber alle gar nicht wissen. Worueber ich stolpere und was zu mir will unbedingt, nun denn, es wird sich finden. Ich maile, ich blogge alle Lebtage einmal, ich google nach (nicht gern vor), ich lese meine Printzeitungen hier und da mal online, ebay-Auktion hier und da, amazon kann mal sein, auch youtube ist voellig ok. Das ist im Ganzen schon fast mein digitales Leben, ok, ich orientiere mich bei Google Maps, wenn ich amtlich! irgendwohin muss (aber lieber nie vor einer Exkursion, denn da moechte ich nicht wissen, wo ich ankomme, sondern unterwegs sein und auf Um- und Abwegen irgendetwas finden, das ich nie gesucht habe). Und selbst all dieses Grundsätzliche muss fortan dosiert sein.

(Wie man zB auch digital analoge Langeweile aufregend inszenieren kann, schauen Sie sich bitte nach Lektuere dieses Eintrages hier an, falls es Sie nicht überreizt, was aber dialektisch in der Ordnung wäre) :

http://www.youtube.com/watch?v=P3Hi7PgsBfg

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Ich will diese Langeweile zelebrieren, deswegen blogge ich von ihr, die zunehmend ins Analoge hinauswaechst. Ich beginne, wieder mehr auf Papier zu schreiben, altes Papier zudem. Nach nur einer Woche ohne fassbare Printausgabe meiner Zeitung taumele ich wie ein sturmumtostes Holzbrett im digitalen Infomeer und fuehle mich erodierend.
Da jedoch nun meine Printzeitung wieder vor mir liegt, die ich später noch als Katzenfutterplatzuntersteller nutzen kann, bin ich glücklich. Neuerdings bin ich so überreizempfindlich geworden, dass mir schon die haptische Tageszeitung zu hektisch ist mitunter und die Wochenzeitung so gerade langsam genug.

Doch, mehr Langeweile, mehr Langsamkeit, mehr Sinnlichkeit. Die Schallplatte knarzt und kratzt ein wenig, fast kann ich die Musik in der Luft greifen. Aufwendig und langsam ist es und damit schoen, wenn ich nach einigen Liedern aufstehen und die Platte wenden muss. Eine Pause ist entstanden, ein Bruch....auf guten Alben wird dieser Bruch durch Wenden der Schallplatte zum dichotomischen Prinzip fuer die Musik...wie wundervoll.

Und dann schriebe ich gerne wieder einen Brief. Mailen geht schnell, ist sehr funktional und...beliebig. Aber wann rafft man sich mal noch auf zum Brief, handgeschrieben? Wie aufregend langweilig so ein Brief in digitalen Zeiten ist...wie da das Papier duftet, wie da die Tinte sich im Papier niedergelassen hat, wie da das Sinnliche den Zweck noch übersteigert, wie da da Medium zum Sinnesding wird und nicht nur unsichtbarer Mittler eines Zweckes oder einer Botschaft...das kommt nahe ans Glück heran.

Ich wähle meine Langeweile statt der verabredeten Aufregung(en). Weder bin ich Deutschland, noch suche ich stellvertretend einen Superstar oder das naechste Topmodel, ich bin kein Star, moechte also auch aus meinem Schneckenhaus nicht heraus, ich möchte nicht Millionär werden, ich war nicht am und im ''Tatort'', kann Günther Jauch und Maybritt Illner nur optisch unterscheiden, vor allem diskutiere ich am Montag nicht Fernsehsendungen vom fernsehheiligen Sonntag im Öffentlich-Rechtlichen, was ich bei weitem für die intellektuell peinlichste Offenbarung geistiger Stumpfheit halte und allen Einsprüchen zum Trotz immer halten werde (um diesbezueglich auch einmal meine elf Kugeln dazu abgeschossen zu haben).

In meiner aufregenden Langeweile pflege ich jetzt einen 9-Tage-Schnurrbart (es ist aber meiner)...und sage allein das Wort mehrfach mit 32-fachem rollendem ''r'' vor mich hin, weil es so schoen langweilig vor sich her schnurrt: Schnurrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrbart. Wenn es mich ganz besonders langweilig erfasst, rolle ich zudem und lege ein sanftes Tremolo sogar auf das ''r'' in -bart, also sage ich: ''Schnurrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrbarrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrt.''

Natuerlich wird es mir so auch zur Obsession, etwaige Leser hinlaenglich zu langweilen. Wenn alles schon aufregend ist, gilt es die Langeweile zu feiern. Wenn die Langeweile mich, den sie ihn ja so sehr an-, auf- und erregt, an-,auf- und erregt, dann kann alles Langweilige mir definitiv nur gut tun und mein Leben ins Gleichgewicht rücken. Man kann dabei, hier ein Beispiel, derart langweilig werden, dass man über brennend aktuelle Themen einfach nie schreibt. Man kann dann einen Eintrag ueber diese aktuellen Themen so lange verschieben, bis man ihn gar nicht mehr schreiben muss, weil das Thema bereits aus der Zeit gefallen ist, die anderen schon alles dazu gesalbadert haben und die Themenkarawane längst weiter gezogen ist. Ad infinitum...

Ich versuche also fürderhin, alles ohne Ereignisspitze zu erleben. Da mir bei meinen ohnehin schon langweiligen Exkursionen die Blütenpflanzen und Wildkräuter noch zu aufregend sind, habe ich mich nun entschlossen, mich den Süßgräsern zu widmen. Die Süßgräser, die so unendlich artenreich und dabei optisch so eintönig formenähnlich und dadurch schwer zu unterscheiden nach Arten, sind mir dafuer gerade recht. Ich empfehle dazu auch diesen faden wikipedia-Eintrag:

http://de.wikipedia.org/wiki/Süßgräser

...und in diesem wiki-Artikel vor allem das Kapitel 2.3: ''Halme und Blätter''.

Der Leser mag schmunzeln, aber ich verbringe meine Tage so. Wenn mir wiederum die Süßgräser ZU aufregend werden sollten, verbleiben mir die Sauergräser (Binsen und Seggen), die Farne und Flechten, die Bärlappe und Schachtelhalme als botanische Belanglosigkeiten in Einheitsgrün.

In Zeiten, da aus allen Lagern und Medien frivole Botschaften und Nullinformationen auf uns einprasseln, die vor allen Dingen sagen wollen, dass wir kaufen und bezahlen sollen, tut es not, langweilig und wunschlos zu sein. Den Wirtschaftsteil der Zeitung wieder zu meiden, das zB habe ich mir vorgenommen und hoffe, das auch zu schaffen. Meine Hoffnung wächst zudem, in meiner digitalen Diät fortan einigermaßen geschützt zu sein vor solchen wichtigen ''Nachrichten'' (hier nur als ein Beispiel fuer Milliarden ähnlich stumpfsinniger ''Meldungen'', die im Sekundentakt sang-, klang- und belanglos verpuffen) :

http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/gleichberechtigung-uni-leipzig-nutzt-weibliche-bezeichnungen-a-903530.html

Wir haben verlernt, die Welt zu SPÜREN...

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Deshalb arbeite ich weiter an meinen Zurüstungen für die digitale Unerreichbarkeit. Fernab jeder Illusion bin ich mir der Tatsache bestens bewusst, dass der Modus ''offline'' ein Begriff ist, der bald nicht mehr verstanden wird. Durch die Dauervirtualisierung mit Smartphones und Tablets ist fuer manche Menschen ''offline'' ein zB allein noch durch höhere Gewalt herbeigezwungener Katastrophenzustand (defektes Gerät, Netzausfall, Sintflut, Weltenbrand), aber kein ernsthaft denk- und lebbarer modus vivendi mehr. Auch hat Sascha Lobo sehr intelligent von einer ''Radioaktivität des Netzes'' gesprochen, deren ''Strahlung'' (wenn man so will: das staendige Online-Sein oder sich in Reichweite einer Netzverbindung oder eines smartphones-Befinden , es muss nichtmal das eigene sein) in diesen Zeiten so langsam das Netz verlässt und auf die ''Analogwelt'' übergreift---und das irreversibel. Insofern wäre sogar mein Wunsch nach Analogzeiten als Atempause ein naiver...doch begreife ich mich als Athlet der Naivität, da bereitet mir der Entschluss keine schlaflose Nacht.

Weil es im Grunde also jetzt schon kein ''offline'' mehr gibt, ist es endgültig vorbei mit den Ausstiegs-Legitimationen heuchlerischer Chat-Teilnehmer alter Zeiten, die erst 5 Stunden lang herumchatteten, als ob es kein Morgen gäbe, dann ihren Koller kriegten und aus dem Chat ausstiegen, nicht ohne zuvor als Kompensation ihrer eigenen Sucht die ANDEREN Chat-Teilnehmer zu schmähen, was dann oft so klang:

''So, ich bin jetzt mal weg, habe schließlich anders als ihr noch ein ECHTES Leben.''

...und so glaubten, mit dieser legitimierten chat-exit-strategy die analogen Übermenschen zu sein und die anderen Chat-Partizipienten zu Vollidioten (v)erklaeren zu koennen. Der Autor unseres Blogeintrages geht mit seinem Eintrag natuerlich nicht in diese durchschaubare Falle. ''Offline'', das ist eine trügerische Kontrast-Sicherheit.

Der digitale Entzug bedeutet nicht, die digitale Welt komplett zu (ver)schmaehen. Es bedeutet allein, mehr zu spüren, sich der Dauer-Reizüberflutung zu entziehen. So habe ich fuer mich entschieden. Und alles, was im Gegenzug in dieser Zeit als analog, ueberkommen und obsolet verschrien und verschmaeht wird, wird in einigen Jahren wieder ''Gold wert'' sein...Papier, Buecher, 3D-Zeitungen Print, Unmessbarkeit, gesellschaftliche Unsichtbarkeit, etc...

Auch hat mein Entschluss zur digitalen Diät allein zu tun mit einer Form der Enthaltsamkeit, um den Kontrast wiederzugewinnen und zu spüren, es ist keine Haltung. Ich will nur hier und da langweilig sein und auf Reize verzichten. Ich mag auch die frivolen Botschaften nicht mehr lesen. Dieser Entschluss hat nichts zu tun mit dem Narrativ der Internet-Euphoriker, es herrsche Angst unter den Menschen mit Analog-Hang, Angst naemlich vor der digitalen Welt. Es ist keine Angst, es ist Überdruss, Hysterie und Kaufbefehl, der man entgehen will mit diesem Entschluss. Man hat schon genug digitalen Stress empfunden durch die permanente Monitorisierung der Umwelt im Privat- und Arbeitsleben, anders gefasst: man möchte schon allein aus Reststolz nicht Sklave des Mediums sein.

Der Autor dieser flüchtigen Zeilen hält es weder fuer ein Muss noch befindet er es fuer besonders chic oder hip, 24/7 online zu sein, auch wenn er um die storyline all der sich allein progressiv Wähnenden weiß: dass man sich ja als moderner digitaler Nomade notwendig selbst zum unhinterfragten permanenten Online-Bewusstsein zu erziehen hat. Davon nehme ich Abstand.

Wenn ich zB meine Rauke im Dauerstarkregen pflücke, dann ist das so langweilig in seiner meditativen Gleichförmigkeit, die mich ein seelisches Gleichmaß ohne Ereignisspitze erreichen lässt, dass ich im Glück bin im Moment dieses Sammelns.

Solange meine Langeweile einen Gegenstand hat, den sie bearbeiten kann, solange ist sie mir aufregend (andernfalls natuerlich würde sie zur langen Weile und Stumpfheit). Stumpf wird man entweder durch GAR KEINEN Reiz oder aber 1000e von Reizen in der Stunde. 1000e von Reizen pro Stunde aber bleiben maximal in den Sinnen hängen, dringen aber nie zum Geist vor. Die meisten beschleunigten und vervielfältigten Reize füllen zwar die Sinne eine Weile, machen aber den Geist stumpf und leer und formieren kein Bewusstsein. Wer bei dem Begriff ''Geist'' uebrigens an dieser Stelle mit den Augen rollt, Handwischer vor dem Gesicht macht, den Kopf schüttelt oder dergleichen, hat diesen Text zwar nachweislich fleißig und weit gelesen, aber nicht verstanden. Aber auch dieser potentielle Augenroller-Mensch wäre mit dem Eintrag hier auf Papier besser bedient: er koennte ihn mit einem lauten Ratsch und unter physischer Genugtuung stellvertretend fuer den Autoren zerreissen, knüllen und wegschmeißen...so aber bleibt Ihnen, werter uneinverstandener Leser, jetzt nur das nun doch wirklich einmal langweilige und leise Wegklicken.

Ich habe mich auf den Weg gemacht, mein Gleichmaß zu kalibrieren...mein essentielles Medium zu fühlen, zu riechen, zu hören, zu sehen, zu beschreiben...

Langweilig ist dieser Text vielleicht schon allein deshalb, weil ich die aufregendesten Ideen ausgelassen habe.

Seinen langweiligen und wie Sie spätestens jetzt bemerkt haben dürften, auf diesen Text nicht anwendbaren Alternativtitel habe ich mir uebrigens bei Jean Paul gestohlen, der seine Leser auch gern bekennend langweilte, damit er sie zum Einschlafen bringen konnte. Es ist der Alternativtitel zu seinem langweiligen Buch ''Die unsichtbare Loge'', welche darzustellen ich meine verstaendigen Leser hiermit versichere. Man kennt diese Leser nicht genau, vermutet einander nur und versteht sich unerklaert.

''...denn da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht.
Du mußt Dein Leben ändern...''

Rainer Maria Rilke, Der Archäische Torso Apolls

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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